(Dieser Artikel wird gemäß Seite 46-58 des Buches “Praktische Philosophie in der modernen Welt” des Autors, Verlag C.H.Beck München 1992 zitiert. Der Originalartikel erschien im “Hegel Jahrbuch” 1987, dort S.108-116. Der Artikel wurde 1986 verfasst.)

In seinen “Vorträgen verschiedenen Inhaltes aus der angewendeten Philosophie” aus dem Jahre 1813 - erstmals 1820 postum unter dem Titel “Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche” publiziert - hat J. G. Fichte die Menschheitsgeschichte als Wechselwirkung zwischen zwei Kräften zu deduzieren versucht: dem Glauben und dem Verstande.’ Da die Aufgabe der Geschichte die Realisierung des Normativ-Verbindlichen aus Freiheit und Vernunft sei, sei eines der erforderlichen Prinzipien die Freiheit, Reflexion, Rationalität. Allerdings könne diese sich nur formen nach einem Bilde, das anfangs vorgegeben sein müsse - in einer angeborenen, von der göttlichen Vorsehung mitgeteilten sittlichen Natur. Diese stellt sich Fichte als ein besonderes Volk vor, das unmittelbar praktischen Notwendigkeiten nachgehe, ohne jede Reflexion lebe (476) und für das die Institutionen der Ehe, Familie und Sippe und schließlich der religiös begründeten Monarchie, ohne hinterfragt oder verletzt zu werden, absolut gälten (481 ff.). Ohne eine solche sittliche Basis hätten sich die Menschen selbst zerstört (471), gäbe es keine Geschichte. Wäre aber dieses ursprüngliche Volk das einzige, gäbe es ebensowenig eine Entwicklung (486). Fichte fordert daher ein zweites Urgeschlecht, dessen Wesen die Freiheit sei (489). Dieses werde am Anfang der Geschichte naturgemäß vom ersten unterjocht; es erkenne, aus Achtung vor der Ordnung des siegreichen Volkes, dessen sittliche Normen als gottgewollt an. Aber dieser Glaube sei nicht unmittelbarer Natur-, sondern durch die Niederlage vermittelter Autoritätsglaube und werde daher nicht völlig internalisiert. Mit der Zeit stelle es ihn daher seinem eigenen Prinzip gemäß immer mehr in Frage, und dieser Zweifel greife auch auf das erste Volk über. Nach Auseinandersetzungen komme es schließlich zur Anerkennung eines neuen Gesetzes, das gegenüber der Positivität des ersten, das nunmehr Aberglaube heiße, ein durch den Verstand gesetztes Band darstelle (492). Aber die größere Vernunft im neuen Gesetz sei nur partiell; sie sei Explikation von Voraussetzungen, die weiterhin nicht begründet, sondern nur geglaubt würden. Daher setze jener Streit zwischen Glauben und Verstand auf höherem Niveau von neuem ein, führe zu einem neuen Kompromiß usf. - »so lange bis der letzte Glaubensartikel und das letzte Resultat desselben im Zustande der Menschheit aufgehoben ist, und unser Geschlecht aus reiner klarer Einsicht, darum mit reiner Freiheit sich selbst erbaut hat« (493). Bis dahin setze freilich wahrhafter Fortschritt ein harmonisches Wechselspiel beider Kräfte voraus, die einerseits für Stabilität und Dauer, andererseits für Dynamik und Fortgang sorgten. Fichte vermag daher Konservatismus und Progressismus, die er als komplementäre Einstellungen erkennt, gleichermaßen Sinn abzugewinnen (493 f.), den auch zu seiner Zeit verbreiteten Gegensatz zwischen beiden auf einen Einheitsgrund zurückzuführen (489).

Abgesehen von der Annahme eigener Urvölker scheint mir Fichtes eben skizzierte Geschichtstheorie einen großen Wahrheitsgehalt zu haben - sowohl was ihre apriorische Begründbarkeit als auch was ihre empirische Verifizierbarkeit angeht. Wenn es Fortschritt geben soll, so ist zweifellos kritische Reflexion erforderlich; nicht minder wichtig ist aber die Bewahrung der Erreichten, sein Festwerden in intersubjektiv anerkannten stabilen Institutionen. Totale Statik und permanente Revolution wären für jede Entwicklung gleichermaßen tödlich: Bloßes Bewahren ohne Innovieren führt zu Sklerotisierungen - der ursprüngliche Zustand wird gar nicht bewahrt, sondern verliert nur seine Lebendigkeit; pausenloses Neuern, ohne daß noch ein tradiertes Kriterium als gültig anerkannt wird, kann nur totale Auflösung zur Folge haben, ja muss sich selbst aufheben: Wenn alles geändert werden kann, dann auch die kritische Auffassung, daß alles geändert werden kann.

Aus dem Gesagten folgt, daß für jeden geschichtlichen Moment ein Miteinander von kulturbewahrenden und kulturabbauenden Elementen konstitutiv ist - Elementen, die sogar ein biologisches Fundament zu haben scheinen.2 Allerdings liegt ein Mangel von Fichtes Geschichtstheorie darin, daß sie zu wenig differenziert, den Fortschritt zu sehr als kontinuierlichen Prozeß faßt. Dagegen ist festzuhalten, daß nicht nur einige Völker eher als Träger geschichtlichen Wandels in Frage kommen als andere, sondern daß auch innerhalb der Entwicklung der eigentlich geschichtlichen Völker der Prozeß des Fortschritts nicht gleichmäßig ist: Phasen relativer Ruhe alternieren in Wahrheit mit solchen rapider Kulturveränderung. Philosophisch interessanter als der Kulturwandel, der auf exogene Faktoren zurückgeht (etwa Krieg), sind jene Veränderungen, die sich dem inneren Reflexionsprozeß einer Kultur verdanken - einem Reflexionsprozeß, der, wenn er zur beherrschenden Macht des öffentlichen Bewußtseins einer ganzen Epoche wird, Aufklärung heißen mag. Aufklärung in diesem Sinne ist nicht auf das 17. und 18. Jahrhundert beschränkt - sie ist ein Strukturmoment geschichtlicher Entwicklung, das im Laufe der europäischen Geistesgeschichte periodisch wiederkehrt und sich erstmals in der griechischen Sophistik verwirklicht hat.

In meinem Buch “Wahrheit und Geschichte” (Stuttgart-Bad Cannstatt 1984) habe ich im Rahmen der dort näher entwickelten Zyklentheorie der Philosophiegeschichte die Aufklärung als konstitutives Moment der verschiedenen Zyklen zu deuten versucht, aus denen die Geschichte des Denkens zu bestehen scheint: Griechische Sophistik, hellenistisch-römischer Skeptizismus, mittelalterlicher Nominalismus, neuzeitliche Aufklärung und die verschiedenen kritischen Theorien im gegenwärtigen Zyklus - sie alle haben eine analoge Stellung, nämlich Ausdruck einer negativen Phase, einer Wendung der subjektiven Reflexion gegen die traditionellen Mächte, gegen Sitte, Religion und die sie legitimierende ,thetische’ Philosophie zu sein.

Sicher ist diese kritische Wendung einerseits etwas Positives. In solchen Phasen der Krise wird eine Kultur zu einer grundsätzlichen Besinnung auf sich selbst gezwungen, wird manche unsinnige Tradition, die sonst noch Jahrhunderte bestehen würde, binnen weniger Jahre zu Grabe getragen, wird gesellschaftliches und staatliches Unrecht aufgedeckt und überwunden. Die faktische Sittlichkeit hat sich vor der moralischen Reflexion zu verantworten: Das geistige Klima wird angeregt, der Fortschritt beschleunigt. Andererseits unterliegt die Aufklärung in ihrer Entwicklung einer eigentümlichen Dialektik.3 So beginnt sie als immanente Kritik - etwa als Nachweis, daß bestimmte Institutionen den sonst anerkannten Grundsätzen widersprächen. Derartige Kritik ist freilich noch nicht das Spezifische der Aufklärung, findet sie sich doch mehr oder weniger immer und überall. Kennzeichnend für die Aufklärung ist, daß sie ihre Punktualität verliert, auf alles ausgedehnt, total wird. Doch ist diese quantitative Erweiterung nur der erste Schritt der Aufklärung. Wesentlich ist, daß in einem zweiten Schritt nicht mehr nur die Institutionen an überlieferten Kriterien gemessen, sondern - auf einer höheren Ebene - die Maßstäbe der Bewertung selbst theoretisch reflektiert und kritisch in Frage gestellt werden. Erst mit diesem Schritt gewinnt die Aufklärung eine philosophische Tiefendimension: Denn da jedes Werten von den Kriterien abhängt, muss eine radikale Kritik sich notwendig gerade ihnen zuwenden. Bei der Kritik der letzten Maßstäbe gerät aber die Aufklärung in eine eigentümliche Aporie: Nach welchen Metakriterien soll sie über jene Maßstäbe urteilen? Greift sie überlieferte Metakriterien auf, so bleibt das kritische Geschäft unvollendet; es ist zudem inkonsequent, der Tradition gerade im Prinzipiellen zu trauen, während man ihr sonst in jeder Kleinigkeit mißtraut. Gibt sie hingegen aus sich selbst Kriterien an, dann stellt sich die Frage, was deren Geltung begründen soll. Bei der Beantwortung dieser Frage wird die Aufklärung meist unkritisch und schwammig. Denn sie vermag zwar scharfsinnig zu kritisieren - nicht aber affirmative Normen zu begründen. (Insofern bleibt auch ihre Kritik parasitär -denn jede Kritik setzt positive Werte voraus.) Da aber ohne Normen nicht zu leben ist, tendiert die Aufklärung aus dem Prinzip subjektiver Reflexion heraus zu einer ,Begründung’ mittels der Versicherung, es handle sich bei ihren Normen um Resultate ureigensten Nachdenkens, die nicht durch fremde Autoritäten, sondern die ganz besondere eigene Subjektivität vermittelt seien. Freilich unterscheidet sich dieses »Argument’ von dem Verweis auf die Tradition nur durch die ihm eigentümliche Eitelkeit,4 ja es ist sogar noch schwächer: Denn Traditionen mussten sich in Jahrhunderten bewähren, bei partikulären Einfällen ist hingegen selbst dieser - gewiß nicht absolute -Test weggefallen. Zudem stiftet auch die unvernünftigste Tradition Intersubjektivität; sie stellt etwas dar, an dem man sich ohne weitere Reflexion orientieren kann, so daß das Verhalten zueinander berechenbar bleibt. Der Formalismus der Subjektivität zerstört dagegen jede Gemeinsamkeit: Verbindende Wertüberzeugungen, ohne die ein Zusammenleben nicht möglich ist, sind auf seiner Basis bestenfalls kontingenterweise gegeben.

Der subjektivistische Relativismus, in den die Aufklärung mündet, hat notwendig praktische Folgen. Der Kultus der eigenen Besonderheit verurteilt zur Einsamkeit. Stabile Beziehungen werden seltener. Die Reflexion lahmt die Entscheidungs- und Tatkraft. Eine allgemeine Verunsicherung bezüglich dessen, was gelten soll, greift um sich. Die Institutionen zerbröckeln: zuerst die Familie, dann der Staat. Eine Destabilisierung der politischen Ordnung tritt auch dort ein, wo die Aufklärung in ihren dogmatischeren Formen Utopien und Ideale entwirft, die nicht nur mit der Faktizität, sondern auch mit dem Wesen der Wirklichkeit nichts zu tun haben, denen aber das geschichtlich Gewordene unverstanden geopfert werden soll.

Dieser Verfall ruft jene Bewegung auf den Plan, die man Gegenaufklärung nennen kann. Diese ist von Anfang an Begleiterin der Aufklärung; schon Sophisten wie Kritias und Kallikles mit ihrer soziologischen Religionstheorie bzw. ihrem Machtpositivismus können als Gegenaufklärer gelten. Allerdings ist klar, daß dieser Typus nur in unserem Zyklus geradezu endemisch geworden ist: Donoso Cortes, Nietzsche, Maurras, Sorel, Pare-to, Spengler, Schmitt, Gehlen, Schelsky, um nur die wichtigsten zu nennen, legen davon beredtes Zeugnis ab; in Konservatismus, Faschismus und Nationalsozialismus ist die Gegenaufklärung zudem zu politischer Macht gelangt. Woher rührt die Affinität gerade unserer Zeit zur Gegenaufklärung? Drei Gründe spielen hier m. E. eine Rolle. Erstens ist unser Zyklus - ähnlich wie schon der hellenistisch-römische nach dem griechischen -in seiner Ganzheit von Skepsis, Resignation, dem Gefühl der eigenen Epigonalität geprägt; auch bei den dogmatischen Systemen fehlt die Unbefangenheit, die die griechische Philosophie bis zu Platon und die neuzeitliche bis zu Hegel kennzeichnete. Entsprechend ist die Aufklärung nicht so konzentriert wie im 17./18.Jahrhundert, zumal immer weniger positive Instanzen bleiben, gegen die sie sich wenden könnte. Zweitens ist es mit der Auflösung des Christentums im 19.Jahrhundert für die Aufklärung zunehmend schwieriger, wie noch im 18. Jahrhundert bei ihrer Kritik positive Werte im Sinne einer christlichen Minimalethik zu unterstellen. Und drittens führt die ganz allgemein für die moderne Welt kennzeichnende tiefere Subjektivität im 20. Jahrhundert zu einer immer subjektivistischeren Ausrichtung der Aufklärung. All dies aber muss die Gegenaufklärung begünstigen.

Evident ist, daß diese zunächst einmal eine höhere Stufe als die Aufklärung darstellt. Sie diagnostiziert schonungslos die intellektuellen und moralischen Mängel eines Räsonierens, das theoretisch ebenso gehaltlos wie praktisch verhängnisvoll ist. Der Betrug in einem .kritischen’ Denken, das alles vor den Gerichtshof seiner Vernunft zieht, bezüglich der letzten Maßstäbe seines Urteils aber in Bodenlosigkeit versinkt, wird ebenso klar durchschaut wie die Tatsache, daß das Resultat der mit großem emanzipatorischem Pathos betriebenen Zersetzung des Allgemeinen häufig genug nur die Beförderung des privaten Hedonismus ist, der die Heteronomie der Institutionen mit der Heteronomie der Triebe vertauscht.

Schon bei Donoso Cortes - dessen Geschichtspessimismus wir oft richtigere Prognosen verdanken als dem Optimismus der Aufklärung - sind die meisten dieser Topoi zu finden. Während er in seinem Hauptwerk, dem “Ensayo sobre el catolicis-mo, el liberalismo y el socialismo,” dem Sozialismus Respekt nicht versagt - als satanische Theologie erfasse er wenigstens die ernsthaften Probleme der Welt -,5 hat er für den Liberalismus, den Erben der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, nichts als Verachtung übrig. Zumal widert ihn seine Unfähigkeit, sich zu entscheiden, an: Der Liberalismus sage weder Ja noch Nein, sondern ziehe sich stets auf ein .distinguo zurück (596 f.). Die liberale Ideologie der Diskussion übersehe, daß jedes Gespräch ein Fundament voraussetze, das nicht selbst zur Diskussion stehen dürfe; ansonsten sei ein fruchtloses Geschwätz vorprogrammiert (517ff.). Die Aristokratie mit ihren heroischen Tugenden der Selbstaufopferung werde im Liberalismus nur durch eine Plutokratie ersetzt, die den Gewinn zum Maßstab aller Dinge erhebe (643). Die Negation der Sünde schließlich könne nur den Nihilismus zur Folge haben, auf den sich die moderne Welt seit der Reformation, die das Zeitalter des Legitimitätsverlustes und der Revolutionen eingeleitet habe (652 f.), unweigerlich zu bewege (663 ff.); der sozialistische Versuch, das Paradies auf Erden zu errichten, werde zudem aus ihr nur ein Hölle machen (675 f.). Um die Diktatur des Dolches, d.h. eines keine Werte mehr anerkennenden Pöbels, aufzuhalten, beschwört daher Donoso in seiner “Rede über die Diktatur” die Notwendigkeit einer Diktatur des Säbels (322 f.).

Der Wunsch aller Gegenaufklärer, die Unverbindlichkeit eines Subjektivismus, der nichts mehr ernst nimmt außer dem eigenen Reflektieren, ebenso zu überwinden wie den Fanatismus moralischer Abstraktionen, denen alle bestehende Sittlichkeit zum Opfer gebracht werden soll, ist sicher ehrenwert; er bildet den substantiellen Kern aller Gegenaufklärung. Verständlich ist auch, daß sich die Gegenaufklärung in ihrem Kampf gegen die Aufklärung auf die kaum zu überschätzende Bedeutung der Institutionen und der sie legitimierenden Religion besinnt. Sie möchte den Sündenfall der Reflexion am liebsten ungeschehen machen und zu einer unbefangenen sittlichen Gesinnung zurückkehren, in der sie mehr Würde erkennt als in einem pausenlosen Moralisieren, das alle Ansprüche, die an es gerichtet werden, unter einen .kritischen’ Vorbehalt stellt, der, bei dem Fehlen verbindlicher Kriterien, in der Regel nur dann nicht geltend gemacht wird, wenn das eigene Wohl gemehrt wird. Dennoch scheint mir, daß die Gegenaufklärung keine adäquate Antwort auf die Lage darstellt, die durch die Aufklärung entstanden ist. Im Gegenteil: Sie ist im Innersten noch widersprüchlicher als die Aufklärung und muss daher im Laufe ihrer Entwicklung einer Dialektik unterliegen, die sie sogar als letzte Form der nihilistischen Tendenzen der Aufklärung erweist.

Das Grundproblem der Gegenaufklärung besteht darin, daß sie mit der höchsten Kraft der Reflexion die Reflexion besiegen will.6 Das ist unmittelbar widersprüchlich, während am Grundgedanken der Aufklärung - alles der Kritik zu unterwerfen -nur seine weitere Entfaltung widersprüchlich ist, die am Problem der Begründung der letzten Kriterien scheitert. Die Gegenaufklärung möchte dagegen - durch die Vermittlung der Reflexion — die unreflektierte Unmittelbarkeit wiederherstellen. Eine als solche gewußte und gewollte Unmittelbarkeit ist aber keine Unmittelbarkeit mehr. Zu diesem Widerspruch kann sich die Gegenaufklärung in drei verschiedenen Weisen verhalten. Entweder er wird kaum als solcher bemerkt - das ist der Fall bei den traditionalistischen Kritikern der Aufklärung im 19. Jahrhundert (de Maistre, de Bonald, Donoso Cortes), die von der Wahrheit des Katholizismus noch durchdrungen sind, auch wenn auffällig bleibt, wie sehr sie sich, auch auf Kosten der Gottesfrage, um die soziologischen Aspekte der Religion kümmern.7 Oder er wird bewußt niedergekämpft; derjenige, der aus Verzweiflung an der Reflexion diese abwürgen will, bemüht sich krampfhaft darum, zur Thesis zurückzukehren, spricht von »Sprung«, Entscheidung usf. Paradigmatisch dafür sind Kierkegaard und die dialektischen Theologen, deren Irrationalismus gegenaufklärerische Züge aufweist, auch wenn er von subjektiver Ehrlichkeit getragen ist. Denn obgleich die existentialistische Religionsauffassung zu subjektivistisch ist, um als wahrhaft religiös gelten zu können - wenn Gott das Absolute ist, dann kann es nicht von meiner unbegründbaren Entscheidung abhängen, ob ich seine Existenz anerkenne; ohnehin ist radikaler Fideismus jeder ursprünglichen Religiosität fremd, denn der naive Mensch glaubt, aber er reflektiert nicht darauf, daß er dies ohne Begründung tut -, so ist ihr doch ein religiöses Anliegen nicht abzusprechen. Anders bei dem dritten Lager der Gegenaufklärung, das jenen Widerspruch offen auskostet und ständig durchblicken läßt, daß es zwar die Religion befürworte, aber nicht weil es an ihre Wahrheit glaube, sondern weil sie für das Volk wichtig sei und den Kulturverfall bremse. Eine klassisches Beispiel für eine Position, die an der Religion ausschließlich aus politischen, soziologischen, vielleicht auch aus ästhetischen, aber sicher nicht aus religiösen Gründen interessiert ist und die das Legitimitätsproblem sozialwissenschaftlich verkürzt, ist der atheistische Katholizismus der Action Francaise, der freilich nicht nur logisch absurd, sondern auch völlig kontraproduktiv ist: Durch ihn wird die Religion nicht gefördert, sondern nur geschädigt. Es ist unsinnig, zu erklären, Ideologien dienten nur dem Leben, der Steigerung des Selbstgefühls von Selbsterhaltungssystemen usw. — eine Ideologie, die darauf reflektierte, würde sofort ihre Lebenskraft verlieren. Eine soziologische Instrumentalisierung der Religion ist für sie viel gefährlicher als Jede offene Religionskritik, da sie zu einer inneren Auflösung des religiösen Gehalts führt. Dennoch ist es begreiflich, daß sich die Religion, durch die Aufklärung verunsichert, im 20. Jahrhundert immer wieder mit dieser letzten Form der Gegenaufklärung verbindet, obgleich ihr ein Instinkt zugleich verrät, welch’ geistige Welten sie von dieser trennen. Bezeichnend sind in dieser Hinsicht das schwankende Verhältnis der katholischen Kirche zur Action Francaise sowie die Differenzen und Affinitäten zwischen Faschismus und Nationalsozialismus. Irrtümlich werden diese beiden häufig als wesensverwandte Bewegungen eingestuft: Zwar verstehen sich beide als Gegenkräfte gegen die Neutralität des Liberalismus und die das Christentum ablösende Hauptideologie der Moderne, den Sozialismus, sind aber in ihren positiven Zielsetzungen geradezu entgegengesetzt: Der österreichische und spanische Faschismus streben, vom Traditionalismus inspiriert, eine künstliche Restaurierung des Christentums an; der Nationalsozialismus will seine Beseitigung. Die Auseinandersetzungen zwischen letzterem und dem klerikalen Austrofaschismus manifestieren diese Gegensätzlichkeit klar, auch wenn es einer dialektischen Notwendigkeit nicht entbehrt, daß die Gemeinsamkeiten, was den Feind angeht, Faschismus und Nationalsozialismus einander immer mehr angenähert haben: Die Falange konnte nur mit Hilfe Hitlers siegen.

Paradox ist daran folgendes: Die Notwendigkeit eines autoritären Katholizismus ist bei Donoso mit der Pflicht einer Überwindung des Nihilismus begründet, der die letzte Folge der Aufklärung sei; der Sieg des spanischen Faschismus, den Donoso sicher begrüßt hätte, verdankt sich aber der Hilfe der nihilistischsten Macht der Geschichte. Die Diktatur des Säbels, die die Diktatur des Dolches verhindern sollte, wird selbst zur schlimmsten Diktatur des Dolches. Statt den Verfall der Werte und Institutionen aufzuhalten, hat ihn die Gegenaufklärung in einem Maße vorangetrieben, zu dem die Aufklärung nicht fähig gewesen wäre. Donoso hatte recht, als er für das 20. Jahrhundert eine moralische Katastrophe ohnegleichen vorhersah; aber er irrte, als er die Schuld daran allein der Aufklärung zuschrieb: Aufklärung und Gegenaufklärung haben zusammen das Debakel der Moderne zu verantworten, ja ohne Zweifel lastet die größere Schuld auf der Gegenaufklärung.

Wie zur Religion, so ist auch die Stellung zur Ethik und Politik bei der Gegenaufklärung theoretisch ambivalent und praktisch gefährlich. Zu Recht vom ethischen Subjektivismus der Aufklärung abgestoßen, aber ebensowenig wie diese zur Begründung letzter Werte in der Lage, müssen die Tugenden, auf denen sie beharrt, im Rahmen der Zweckrationalität verbleiben: Es sind immer nur Sekundärtugenden. Nun ist es sicher, daß ohne Sekundärtugenden wie Disziplin, Tapferkeit, Opfermut nichts großes geleistet werden kann; ihre pauschale moralisierende Diffamierung ist daher inakzeptabel; Es sind und bleiben Tugenden. Aber ebenso sicher ist, daß sie mißbrauchbar sind: Sie beziehen ihren Sinn nicht aus sich, sondern aus etwas anderem. Die gegenaufklärerische Verherrlichung von Sekundärtugenden muss daher auf eine Ideologie der starken Institutionen, ja der Macht um der Macht willen hinauslaufen, und das ist nicht eine Überwindung, sondern nur eine Bestätigung des Nihilismus: Aus dem passiven Nihilismus des Hedonismus wird ein aktiver Nihilismus, der in Grenzsituationen. im Kampf um Leben und Tod zwar seine Subjektivität (sowie diejenige anderer) aufs Spiel zu setzen bereit ist, aber dabei doch ausschließlich seine ureigenste Subjektivität genießen und entdecken will. Ernst Jüngers heroischer Nihilismus ist nichts anderes als eine besonders raffinierte Abart des Hedonismus.8

Auch der Versuch, über die Sekundärtugenden hinaus in den Bereich primärer Werte vorzustoßen, ist hoffnungslos, wenn er sich auf den sog. Dezisionismus reduziert, der nur im Bereich des Kontingenten sein Recht hat. Denn die Grundwerte einer Entscheidung zu überlassen, heißt nur den Subjektivismus perennieren, aus dem der Dezisionismus eigentlich ausbrechen möchte: Die unabweisbare Frage nach dem Grund meiner Entscheidung für bestimmte Werte wird durch den Dezisionismus nur so beantwortet, wie Kopfschmerzen durch Köpfen geheilt werden. Die inhaltliche Bestimmung der Werte, für die sich der Dezisionismus gewöhnlich entscheidet, ergibt sich freilich mit nur selten reflektierter Notwendigkeit aus dem Grundproblem der Gegenaufklärung: Da sie an der eigenen Reflexion leidet, muss sie deren Gegenpol zum Ideal verklären - die Natur, und d.h. konkret: das Blut, die Rasse, das kontingente Selbstbehauptungssystem der eigenen Nation. Freilich ist das, was die Gegenaufklärung erreicht, nie jener Ursprung, nach dem sie sich in völlig unnatürlicher Weise verzehrt, sondern etwas viel Schlimmeres als selbst Barbarei, die ja immer durch Tabus begrenzt ist: das Sich-Ausleben einer entfesselten Negativität.

Auch das Sich-Abfinden mit der Faktizität, sei es in seiner quietistischen, sei es in seiner aggressiv-machtpositivistischen Spielart, ist keine Lösung des durch die Reflexion gestellten Geltungsproblems, denn es ist das Grundfaktum menschlichen Seins, daß es sich nicht mit der Faktizität abfinden kann. Es ist daher inkonsistent, moralisierenden Zeitgenossen mangelnde Bereitschaft vorzuwerfen, sich mit der Realität abzufinden, und zugleich gegen dieses Moralisieren zu polemisieren, das zur beherrschenden Macht des Zeitgeistes geworden ist. Hätte etwa Gehlen die Wirklichkeit seiner Zeit akzeptiert, dann hätte er wie die meisten anderen im Kulturbetrieb miträsoniert, während seine kritische Frontstellung zur Aufklärung in Wahrheit nur belegt, daß er deren Prinzip noch ernster nimmt als diese selbst. So ist auch sein Werk “Moral und Hypermoral” (Frankfurt/Bonn 1969) nichts anderes als Hypermoral in zweiter Potenz: Der Wunsch, gegen den Zeitgeist die eigene Besonderheit herauszustreichen, drückt sich in jeder Zeile des Werkes aus.

So sehr also die Gegenaufklärung als Reflexion auf das aufklärerische Prinzip der Reflexion einen Fortschritt über diese darstellt, so sehr muss sie doch als inkonsistente Metatheorie gelten - inkonsistent, weil sie nicht darauf reflektiert, daß sie selbst, die die Reflexion überwinden wollte, nur eine höhere Form der Reflexion ist. Das Kunststück, reflektierend aus der Reflexion herauszutreten, ist auch der Gegenaufklärung nicht gelungen, weil es das ist, was absolut nicht gelingen kann.

Aber wenn sowohl Aufklärung als auch Gegenaufklärung inakzeptabel sind: Welche Position ist dann zu beziehen, da eine solche bezogen werden muss? Es ist die Tragik der modernen Philosophie, daß sie das durch die Aufklärung aufgeworfene Legitimitätsproblem nicht in den Griff bekommen hat. Dieses Problem ist seit der Auflösung des Christentums für das gebildete, seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus für das philosophische Bewußtsein offen, aber es bleibt unabweisbar. Weder Aufklärung noch Gegenaufklärung sind darauf eine Antwort; und zwischen beiden pendelt die moderne Philosophie im wesentlichen nur hin und her, ohne zu einer Synthese zu gelangen. So herrscht nach der kritischen Welle der 60er und 70er Jahre im Augenblick eher eine gegenaufklärerische Tendenz, die freilich auf der Rechten die technische Zweckrationalität in die eigene Konzeption einbinden will und ganz allgemein Radikalität eher vermeidet, um sich an einem konservativ getönten common sense zu orientieren, während auf der Linken lebensphilosophische Irrationalismen florieren, die in manchem an die Weimarer Gegenaufklärung erinnern. Ob sie auch in ihren praktischen Resultaten auf ähnliches hinauslaufen werden, werden wir in den nächsten Jahrzehnten zu beobachten Gelegenheit haben.

Will man freilich diese Entwicklung nicht nur theoretisch beobachten, so drängt sich nochmals die Frage auf: Welche Position jenseits von Aufklärung und Gegenaufklärung ist zu beziehen? Da die zeitgenössische Philosophie wenig Orientierung bietet, ist es legitim, zur Beantwortung dieser Frage einen Blick auf die frühere Philosophiegeschichte zu werfen. In “Wahrheit und Geschichte” habe ich zu zeigen versucht, daß weder Aufklärung noch Gegenaufklärung das letzte Wort eines philosophischen Zyklus sind. Die letzte Position ist der Versuch, das von der Aufklärung unbewältigte Grundproblem der praktischen Vernunft, das der Begründung der letzten Kriterien dessen, was gelten soll, nicht aus der Tradition, sondern aus der Vernunft selbst zu lösen. Ein solcher Versuch ist erstmals von Platon, das bisher letzte Mal von den deutschen Idealisten unternommen worden. Diese Denker erscheinen zur gleichen Zeit als Vollender von Aufklärung und Gegenaufklärung. Das Grundanliegen der Aufklärung, alles der Vernunft zu unterwerfen, wird erst im Gedanken der Letztbegründung wirklich ernst genommen; das treibende Motiv der Gegenaufklärung, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären und dem Zerfall der vernünftigen Institutionen zu wehren, ist bei Platon und zumal Hegel so deutlich vorhanden, daß eine oberflächliche Historiographie in beiden Gegenaufklärer hat erkennen wollen. Es ist hier nicht der Ort, den Begründungsgedanken, der Platon und Hegel gemeinsam ist, näher zu untersuchen; es sei nur gesagt, daß er das Scheitern des Versuchs der Gegenaufklärung, aus der Reflexion herauszutreten, ins Positive wendet und in der Reflexion der Reflexion das absolute, weil nicht negierbare Fundament der theoretischen wie praktischen Philosophie erfaßt. Ob dieser Gedanke sich in zeitgemäßer Form neuformulieren läßt? Ich bin überzeugt, daß sich die Alternativen zu einem solchen Versuch in der Skylla der Aufklärung und der Charybdis der Gegenaufklärung erschöpfen. Will man zwischen beiden hindurchschiffen und zugleich beide in ihre Wahrheit bringen, muss man den Mut zu einem Erkennen haben, das sich der grundsätzlichsten Frage der Vernunft stellt: der Frage nach der Letztbegründung oder, metaphysisch gewendet, der Frage nach dem Absoluten.