1. Der Weg von der Qualität zur Quantität

1.1 Dialektische Reflexion auf Kategorien

Hegels metalogische Reflexionen auf Kategorien im doppelten Sinn von allgemeinen Seins-, Ausdrucks- und Erfahrungsformen wie Qualität und Quantität und damit auch auf Grundbegriffe normalsprachlicher und wissenschaftlicher Rede in der “Wissenschaft der Logik” (im folgenden oft kurz “WdL”) und der “kleinen Logik” der “Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse” (kurz “Enz.”) schreiten wie in einem Dialog mit bekannten Positionen des üblichen Verständnisses (eines ‚common sense’) oder einer (wissenschafts-)philosophischen Lehre (insbesondere der Newtons und Kants) voran. Dabei geht es um die Entwicklung eines tieferen Verstehens von Formen des Urteilens, und zwar durch Nennung der Formen und durch einige in Kernthesen formulierte Kommentare, in denen implizite Voraussetzungen der Positionen explizit gemacht werden. Eine Theorie im modernen Sinn einer sich an die ehrwürdige Methode und Autorität des Mathematischen haltenden ‚analytischen’ Philosophie, die am liebsten formale Modelle konstruiert, ist das freilich nicht.

Hegel beginnt in der ‚Seinslogik’ mit der allgemeinsten Position, der Unterstellung eines reinen Begriffs des Seins an sich, wie er sie bei Parmenides findet, scheinbar ohne relativen Bezug auf ein nicht existentes Nichtsein. Es ‚folgt’ dann aber gleich die fast schon selbstverständliche Einsicht, daß dieser Begriff sinnlos wäre ohne die (zunächst rein formale) Unterscheidung zwischen Sein und Nichts auf der ‚objektiven’ Ebene der möglichen Referenz von Aussagen und Gedanken. Diese wiederum setzt eine (ebenfalls rein formale) Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch voraus, und zwar auf der ‚subjektiven’ Ebene der Artikulation dessen, was es angeblich gibt oder nicht gibt. Die ersten Schritte dieser Überlegung führen zu einer Grundeinsicht, die Hegel aus dem Cartesianismus und Empirismus übernimmt, in seiner Weise aufhebt, und das heißt, von problematischen Deutungen reinigt und sprachlich verdichtet: Daß aus dem Sein das Nichts und daß aus dieser Unterscheidung das Werden im Dasein und die Differenz von Ansichsein und Fürsichsein ‚folge’, artikuliert kernthesenhaft präsuppositionale Beziehungen der folgenden Art: Keine Behauptung p, insbesondere keine Existenzaussage der Form “es gibt ein X mit der Eigenschaft E” hat Sinn und Bedeutung, wenn nicht schon unter anderem vorausgesetzt wird, daß es uns als Sprecher gibt, die sich einen objektiven Gegenstandsbereich gegenüberstellen. Hierin besteht die relative Wahrheit eines Anfangs der Reflexion “mit Ich” (WdL I, 61; GW 21, 62). Das ‚subjektive Ich’ und (wie sich herausstellen wird, durchaus komplexe) ‚Fürsichsein’ der jeweiligen Sprecher ist nämlich in jeder Aussage ebenso präsupponiert wie ein gemeinsam kontrollierbarer ‚objektiver’ Geltungsanspruch. Letzterer basiert immer in irgendeiner Weise auf gemeinsam kontrollierbaren qualitativen Unterscheidungen im Dasein als dem Gegenüber der Anschauung. Dieses Gegenüber von Anschauung und Wahrnehmung hat zunächst die ‚herakliteische’ (oder auch ‚humeanische’) Grundeigenschaft der kontinuierlichen Veränderung, des ewigen Werdens und Vergehens (WdL I, 68; GW 21, 70).

Dies alles gilt insbesondere auch für jede quantitative Rede. Gerade auch abstrakte Gegenstände setzen das Dasein ihrer am Ende immer anschaulichen, das heißt, in der Anschauung wiedererkennbaren, Repräsentanten voraus. Dies gilt auch noch für die ‚unanschauliche’, weil inzwischen nicht mehr geometriefixierte, sondern arithmetisierte und algebraisierte Mathematik der Gegenwart. Ohne die qualitativen Unterscheidungen verschiedener Repräsentationen abstrakter Gegenstände oder Regeln (unter Einschluß von Funktionen und Relationen), und ohne unsere Praxis der Äquivalentsetzung, Nicht-Unterscheidung oder Identifikation unterscheidbarer Repräsentationen, die damit zu einer Art Vertretung oder Benennung der gleichen Gegenstände werden, gäbe es gar keine abstrakten Gegenstände. Das heißt, sie wären gar nicht als Gegenstände sinnvoller Rede definiert, auch nicht in der Mathematik. Sie wären nichts.

Der formale Widerspruch einer derartigen Ausdrucksform, in der man zunächst Redegegenstände unterstellt, um sie dann als nicht existent zu erklären, ist spätestens seit Parmenides offenkundig (WdL I, 68; GW 21, 70). Hegel sieht, daß wir sie nicht vermeiden können, was jeder wissen könnte, der je über Begriffe wie Nicht-Existenz (Beispiel: “Infinitesimale Größen gibt es nicht”) und Identität (Beispiel: “Die rationalen Zahlen 4/8 und 2/4 sind identisch”) nachgedacht hat oder dann auch über die Sätze im Gedicht des Parmenides. Eben deswegen hat Hegel derartig ‚widersprüchliche’ Ausdrucksform als dialektische von normalen Ausdrucksformen unterschieden. So wie wir ironische oder analogische oder metaphorische Ausdrucksformen von wörtlichen unterscheiden und entsprechend verstehen müssen, sind auch dialektische Sätze immer nur aufgrund einer besonderen Kompetenz zu begreifen: Wir müssen das in ihnen Aufgewiesene aktiv finden und von den nicht intendierten ‚wörtlichen’ Lesarten trennen. In ‚sprachtechnischer’ Formulierung heißt das, daß gewisse formale Folgerungsformen, die in ‚normaler’ oder wörtlicher Rede erlaubt oder verpflichtend sind, als unzulässige, eben ‚nicht intendierte’, auszufiltern sind, und zwar vom Hörer oder Leser aufgrund von freier, kooperativer, Urteilskraft. Wer dabei nicht mittun kann oder will, dem erscheinen die Sätze als sinnlos oder offenkundig falsch. Daß dies das Problem des Adressaten sein kann, nicht nur des Sprechers, hat sich bei Kritikern der ‚Dialektik’ Hegels und darüber hinaus bei allen, die eine fixe und eben damit zu enge Vorstellung davon haben, was man wie klar und deutlich auszudrücken habe, noch nicht genügend herumgesprochen.

Wir betrachten als weiteres Beispiel für eine ‚dialektisch’ artikulierte Einsicht die scheinbar unsinnige Aussage, daß das reine Sein und das reine Nichts (unmittelbar und ohne weitere Bestimmung) ‚dasselbe’ seien (WdL I, 58; 67; GW 21, 59 f.; 69). Der Satz zeigt indirekt etwas an unserer Form des Weltbezugs: Ohne die Vermittlung einer gemeinsamen Praxis der Unterscheidung gibt es kein ‚Richtig’ und kein ‚Falsch’ und damit auch kein Sein oder Bestehen im Unterschied zu einem Nicht-Bestehen. Rein und unmittelbar wären “wahr” und “falsch” bloße Wörter. Die willkürliche Behauptung des Bestehens eines Sachverhaltes, daß p, wäre nicht besser oder wahrer als die des Nichtseins, also daß nicht p.

Die Formen die sich in dialektischen Widersprüchen der genannten Beispiele zeigen, waren nicht zuletzt aufgrund eines Mangels an einer expliziten Unterscheidung zwischen der Rede über Ausdrücke oder Äußerungsakte und der Rede über die damit repräsentierten Gegenstände und Sachverhalte noch nicht so klar, deutlich und direkt artikulierbar wie heute, nach der sprachtheoretischen Wende, dem ‚linguistic turn’, und der dabei entwickelten philosophischen Reflexions- und Explikationssprache. Wir werden daher zu beachten haben, daß Hegels Ausdrucksweisen nicht so wie die philosophische Terminologie heute zwischen Begriffswort und Begriff, zwischen Äquivalenzrelation, Gleichheit und Identität, zwischen Geschichte qua Erzählung und Geschichte qua Erzähltem, zwischen einem Gegenstand qua innerem Thema einer Rede und einem Gegenstand qua Referenz (etwa in einer der Rede in irgendeinem Sinn ‚gegenüber’ angesiedelten Erfahrungswelt) differenzieren, jedenfalls nicht kontextfrei – was wir in unserer Normalsprache ja auch nicht tun. Hegel benutzt insbesondere keine Anführungen zur Zitation von Ausdrücken oder Sätzen. Es ist immer nur der Kontext, der zeigt, ob ein Satz bloß erwähnt oder ob er wirklich gesagt ist, ob mit ihm direkt etwas behauptet oder indirekt gezeigt wird.

Unsere entwickeltere terminologische Differenzierungspraxis und die Tatsache, daß Hegel alle Register der Sprache zieht, womit seine Gedankenfügungen wie im Fall eines Orchester- oder Orgelstücks schwerer identifizierbar sind, als wenn man sie auf dem Klavier zeitgenössischer philosophischer Prosa rekonstruiert, stellen jede Interpretation vor eine schwierige Aufgabe. Verlangt ist einiges an Hintergrundwissen, Sprachverständnis und Urteilskraft. Verlangt ist auch Geduld angesichts der Vielfalt von Mißdeutungen in der Rezeptionsgeschichte, die durchaus auch auf das Konto der vielen nie endgültig disambiguierbaren Vieldeutigkeiten und Idiosynkrasien der Hegelschen Darstellungsform gehen. Jede Interpretation, die mehr sein will als paraphrasierende Wortumstellung, wird angesichts dieser Tatsachen, wie jede gute Übersetzung in eine andere Sprache, viele Entscheidungen zu treffen haben und ist daher, wie jede sinnvolle Rede ohnehin, offen für Kritik, für Verbesserungen, aber auch für Unverständnis.

1.2 Abstraktive Konstitutionstheorie

Daß kein einziger (Rede-)Gegenstand unmittelbar gegeben ist, und zwar weder mir, noch dir, noch einem fingierten Auge Gottes oder einfach in einer Welt an sich, daß am Ende sogar alle Redegegenstände in einem gewissen Sinn abstrakt oder formal sind und damit eine gewisse abstraktionstheoretische Konstitution voraussetzen, das ist die wichtigste und bis heute kaum begriffene Grundeinsicht Hegels in die Struktur unserer Rede über etwas und unserer Unterscheidung zwischen etwas und nichts. Es ist zugleich eine Grundeinsicht in die Struktur abstrakter Redegegenstände.

Die entsprechende Abstraktionstheorie steht denn auch im Hintergrund von Hegels Analyse der Kategorie oder Redeform der Quantität und des Maßes im zweiten und dritten Abschnitt der Lehre vom Sein in der Wissenschaft der Logik. Thematisiert werden dabei die begrifflichen Grundlagen quantitativer Darstellungen von Erfahrung in den ‚mathematisierten’ Wissenschaften. Wir reden in der Redeform unter anderem über abstrakte und konkrete Quanta, über kontinuierliche Größen und diskrete Mengen, über Grade oder Zähleinheiten oder Meßschritte und über Maße, also Maßzahlangaben. Hegels logische Analyse weist dabei unter anderem nach, daß Elemente als diskrete Gegenstände eines Gegenstandsbereiches allererst durch eine Definition ihrer Identität zusammen mit dem zugehörigen Gegenstandsbereich konstituiert sein müssen und nicht etwa unmittelbar ‚an sich’ existieren. Erst dann lassen sich aus solchen diskreten Bereichen Teilmengen prädikativ aussondern, wie wir dies aus der Frege-Tradition kennen. Hegel reflektiert außerdem auf das keineswegs triviale logische Problem, was denn Maßzahlangaben mit der erfahrbaren Realität zu tun haben, die es als solche, außerhalb des rein schematischen Rechnens und Deduzierens reiner Mathematik und formaler Logik, nur in der Kontrolle qualitativer Unterscheidungen ‚gibt’. Das verfolgte Interesse ist eine radikale Kritik an jeder metaphysischen Hypostasierung mathematischer Modelle im Pythagoräismus. Dieser heißt oft auch “Platonismus” und ist nach Hegel ein noch etwas kindliches, allzu unmittelbares, Verständnis der Ausdrucksweisen und Modelle mathematisierter Wissenschaft. Hegel findet es auch noch in der ‚wissenschaftlichen’ Weltanschauung der Newtonianer wieder, im mechanistischen oder physikalistischen Materialismus oder Naturalismus, und Reste davon sogar bei Kant.

In den zwei Kapiteln zur Quantität und größe, dem 2. Abschnitt der Seinslogik, geht es nun um die logischen Grundlagen einer expliziten Konstitutionsanalyse quantitativer, mathematisierbarer, Wissenschaft. Themen sind der mathematische Mengen- und Strukturbegriff und die Unterschiede zwischen einer in diskrete Elemente gegliederten Menge und einer mehr oder weniger diffusen Ansammlung von Phänomenen, etwa auch einem Dinghaufen, also der Unterschied zwischen einer kontinuierlichen und diskreten größe" (so lautet auch der Titel des Teiles B der allgemeinen Erläuterung der Quantität im 1. Kapitel). Unter dem Titel “Quantum” im 2. Kapitel geht es um die Konstitution reiner Mengen, reiner Größen und reiner Zahlen im Unterschied zu ‚benannten’ (Maß-)Zahlen. Reine Mengen und Zahlen sind immer nur repräsentativ definierte Formen des Mengenbildens und Zählens. Benannte Zahlangaben und die Probleme der Deutung von Maßangaben als Aussagen über die Erfahrungswelt sind dann erst eingehenderes Thema des 3. Abschnitts des 1. Buchs der Wissenschaft der Logik, das unter dem Titel “das Maß” steht. Im 2. Abschnitt mit dem Titel “Die größe (Quantität)” geht es also noch nicht um die Anwendung, sondern um die abstraktionstheoretische Konstitution von Zahlangaben und Mengenbildungen.

Nun präsentiert Hegel nicht etwa eine konstruktive Theorie der Abstraktion, in der von relativ unmittelbaren qualitativen Unterscheidungen, sagen wir zwischen Symbolen wie “1,” “2,” “3,” oder “I,” “II,” “III,” oder “Eins,” “Zwei,” “Drei,” ausgegangen wird und durch Setzung einer Relation der Nichtunterscheidung oder Äquivalenz die Zahlgleichheiten 1=I und I=Eins, 2=II und II=Zwei usf. im Kontext der weiteren Definition von Zahlrelationen wie 1<2 und 2<3 und 1+1=2, 2+1=3 usf. definiert wird. Reine Zahlen als abstrakte Gegenstände sind durchaus auf diesem formalen Weg rekonstruierbar, wobei wir, wie Hegel bemerkt (WdL I, 201; GW 21, 198), statt Strichlisten zunächst die Finger gebrauchen und die auswendig gelernte geordnete Zahlwortfolge, also “eins,” “zwei” .. “zehn” “elf,” “zwölf,” “dreizehn” usf. eine verbale Basistechnik darstellt. Insgesamt geht Hegel in seinen Reflexionen aber nicht konstruktiv, sondern analytisch vor. Er untersucht die notwendigen und konkreten Voraussetzungen einer schon als bekannt unterstellten Praxis der Rede über abstrakte Gegenstände. Er möchte diese Voraussetzungen explizit machen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, daß die relativen Präsuppositionen gewisser Redeformen direkt aufgewiesen werden. Es hat den Nachteil einer gewissen Unübersichtlichkeit, die aus der unterstellten Kenntnis der Praxis herrührt, die jeweils kommentiert wird.

1.3 Vom Sein zum Dasein

Hegels Weg führt dabei von der Reflexion auf qualitative Unterscheidungen im Dasein (im ersten Abschnitt der Seinslogik) zur Reflexion auf die Verfassung von ‚quantitativen’ Mengenbildungen, Zahlangaben und Messungen. Basis einer Definition einer Menge und ihrer Elemente oder eines Maßes, mit welchem eine andere größe gemessen wird, ist notwendigerweise das, was wir präsentisch, in der elementaren Prädikation gemeinsam und damit nicht etwa unmittelbar in der Einzelempfindung unterscheiden können.

In allen Aussagen, die sagen, daß es etwas mit einer bestimmten Eigenschaft gebe oder in denen gar eine Anzahl oder ein Maß für die Eigenschaft bestimmt ist, wird schon ein ganzer Rede- oder Gegenstandsbereich und eine auf ihm definierte ‚Klasse’ von Unterscheidungen und Relationen vorausgesetzt. Diese Unterscheidungen basieren immer in irgend einer Weise auf präsentischen qualitativen Unterscheidungen. Denn wir müssen zumindest die Repräsentationen (Ausdrücke) unterscheiden können. Und wir müssen unterscheiden können, wann ein Ausdruck in präsentischer Prädikation in bezug auf ein Da- oder Dort-Sein richtig gebraucht, als Aussage wahr ist. Manche einzelne Verwendungen nämlich sind falsch, unrichtig, weil sie von uns als solche bewertet, aus dem allgemeinen bzw. richtigen Gebrauch ausgeschlossen werden. Ohne diese Unterscheidungspraxis des Richtigen und Falschen könnten wir keine Unterschiede artikulieren und keine wahren und falschen Sätze äußern. Das weiß schon Platon, wie der Dialog Sophistes in Fortsetzung des von Hegel so geschätzten Dialogs Parmenides zeigt.

Präsentische prädikative Aussagen sind wahr in Abhängigkeit von Wahrnehmungen, genauer, von gemeinsamen Anschauungen. Der Fehler des Empirismus von Locke und Hume bis Russell und Carnap besteht in der Unterschätzung der Differenz zwischen bloß individueller, unmittelbarer, Wahrnehmung bzw. sinnlicher Gewißheit qua ‚Gefühl’, in welcher nichts bestimmt und bestimmbar ist, und einer immer schon gemeinsamen Anschauung, in der ein Zeigen oder ‚Monstrieren’ möglich ist. Ein solches deiktisches Monstrieren aber ist nicht unmittelbar möglich. Anschauungen setzen einen gemeinsamen Bezug im Dasein und damit einen Perspektivenwechsel voraus. Was von mir aus da ist, ist von dir aus dort, und es ist dasselbe, weil es von uns als dasselbe gezählt oder gewertet wird. Diese Wertungen setzen normative Setzungen, implizite Urteilskriterien, voraus.

Nur wer die Praxis der Kontrolle der Gemeinsamkeit des deiktischen Bezuges beherrscht, kann Sprache erwerben. Schon wenn die Mutter dem Kind etwas zeigt, kontrollieren Kind und Mutter die gemeinsame Bezugnahme gemeinsam. Das Kind kopiert nicht etwa nur das Verhalten der Mutter oder reagiert auf einen stilisierten Beginn eines Verhaltensablaufs. Das Kind kontrolliert die zustimmende Gebärde der Mutter, die Mutter kontrolliert den gemeinsamen Bezug. Das Kind heischt nach Lob, wenn es ‚richtig’ Bezug nimmt (was immer das konkret heißt). Die Mutter ‚tadelt’, wenn die Gemeinsamkeit des Bezugs offenbar mißglückt. Die Deixis als Basis gemeinsamer sprachlicher, prädikativer, Unterscheidungen lebt von dieser Triangulation, wie man die Fähigkeit zur Perspektiventransformation und am Ende zur selbständigen Kontrolle der Gemeinsamkeit eines Bezugs bildhaft nennen kann.

Unsere normativen Bewertungen des Richtigen und Falschen sind immer im Bezug auf das richtige gemeinsame Tun und Können zu verstehen. Sie erzeugen und stabilisieren die Gemeinsamkeit der Perspektive (und das kann im einzelnen sehr Unterschiedliches bedeuten). Anschauung, so kann man jetzt terminologisch sagen, ist wahrnehmende Bezugnahme auf etwas im Dasein, das die rechte Beherrschung des Perspektivenwechsels von einem Betrachter oder Sprecher zu einem anderen schon mit einschließt und daher alles andere als ein unmittelbares Vermögen des Einzelwesens ist.

Insbesondere alle symbolischen Repräsentationen durch Laut und Schrift setzen die gemeinsame Praxis der anschaulichen Identifikation der betreffende Lautformen und Schriftzeichen(ketten) voraus. Wer z. B. die graphematischen Formen mathematischer Notationen nicht unterscheiden und identifizieren kann, der wird auch nichts Entsprechendes mathematisch ‚denken’ können, so wie derjenige nicht lesen und schreiben kann, welcher ein ‚a’ nicht von einem ‚b’ unterscheiden kann oder ‚ab’ nicht von ‚ba’.

1.4 Die semantische Kategorie der Quantität

Unter dem allgemeinen Titel “Quantität” behandelt Hegel nun die Konstitution des extensionalen Gegenübers von ‚Begriffen’, und zwar sowohl von ganzen Sätzen als auch von Satzteilen. Quantitäten oder Extensionen sind also als Bedeutungen von namenartigen Ausdrücken zu bestimmen, wobei wir von vornherein zwischen diskreten und kontinuierlichen Extensionen zu unterscheiden haben.

In traditioneller Weise wird dabei unterstellt, daß sich Sätze und prädikative Satzteile durch Nominalisierungen in formale Namen verwandeln lassen, so wie der Satz “es regnet” sich in die namenartige Ausdrücke “die Proposition, daß es regnet” oder “der Sachverhalt, daß es regnet” oder, traditioneller, in “der Begriff des Regnens” verwandeln läßt oder die Prädikate “x ist ein Pferd” oder “x ist größer als y” in die namenartigen Ausdrücke “der Begriff des Pferdes” oder “der Begriff der größe,” oder sogar schon in “der Umfang des Begriffes ‚Pferd’.” Vermöge derartiger Verwandlungen lassen sich die allgemeineren Fragen nach Sinn und Bedeutung von Sätzen und Satzteilen in die speziellere Frage nach Sinn und Bedeutung von komplexen Benennungen bzw. Begriffen überführen, die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeitsbezug in die Frage nach dem Sein, nach dem also, was es gibt und was nicht. Das bedeutet zunächst nur eine sprachtechnische Vereinfachung, die man angemessen zu berücksichtigen bzw. umzuformulieren hat, wenn man die Kommentare zu den nominalisierten Ausdrücken auf die zugehörigen Sätze, Aussagen, Prädikate und Relationen bezieht.

Die Extensionen von nominalisierten Ausdrücken (die selbst schon Namen sein können oder von Begriffen oder Sätzen stammen mögen) dachte man sich seit Aristoteles als Erfüllungsbereiche. Für Sachverhalte, daß p, geht es um die Erfüllung des prädikatartigen Ausdrucks “dies ist eine p-Situation,” für Namen N um die Erfüllung des prädikatartigen Ausdrucks “dies ist N” und für Prädikate um die Erfüllung der Aussageform “dies ist (ein) P.” Andere Formulierungen für derartige Erfüllungen im deiktisch zugänglichen, präsentischen Dasein sind: “in dieser Situation besteht der Sachverhalt, daß p,” oder “diesem Gegenstand kommt das Prädikat P bzw. der Name N zu.” Ur- und Vorbild für diese logische Vorstellung ist der aristotelische Horos, die Ausgrenzung eines Bereiches aus einem größeren Bereich, z. B. eines Zeitintervalls aus einer längeren Zeit, eines Teilraumes aus einem größeren Raum. Dabei wird das Wort “Horos,” lateinisch “Terminus,” schon bei Aristoteles zweideutig verwendet. Es verweist sowohl auf den die Extension darstellenden Ausdruck, das Begriffswort, als auch die Extension selbst. Die deutsche Rede von einem Begriff ist in ganz gleicher Weise zweideutig. Manchmal verweist sie auf die Wörter oder Ausdrücke, z. B. wenn man nach dem ersten Auftreten eines Begriffs fragt und Begriffsgeschichte entsprechend nur auf der Ausdrucksebene betreibt. Manchmal spricht man von einem Begriff und meint die Extension oder wenigstens die Art der Bestimmung der Extension im Sinn einer Eingrenzung dessen, was unter ‚den Begriff’, also das Begriffswort fällt. Freges Auffassung von einem Begriff als ungesättigter Funktion mit zwei Werten, das Wahre oder Falsche, kommt der letzten Auffassung nahe, paßt aber nur, wenn der Definitionsbereich schon ein diskreter Gegenstands- oder Elementbereich ist, wie dies in der (höheren) Arithmetik (der Mengenlehre) durchgängig unterstellt wird.

Zwei Begriffsworte heißen extensionsgleich, wenn ihre definitorischen Kriterien zu den gleichen Eingrenzungen führen. Dabei brauchen diese Eingrenzungen noch keine Mengen zu sein. Eine Menge ist über eine Eingrenzung in einem diskreten Gegenstandsbereich definiert und ist als solche auch schon ein Quantum mit Anzahl. Quantitäten sind aber primär mögliche Eingrenzungen in einem kontinuierlichen Bereich.

Die Art, wie Hegel Quantitäten behandelt, ist dabei durch die traditionelle Logik und ihr mereologisches Bild der Extensionen vorgegeben. In diesem Bild ist eine Bedeutung gerade eine Extension oder Quantität, ein Umfang. Mit Aristoteles kann man dann sagen, daß es gewisse ‚Substrate’ (‚hypokeimena’) gibt, die ‚unter’ dem Begriff oder im Begriffsumfang liegen, wenn dieser nicht leer ist. Die zentrale Frage des Kapitels zur Quantität ist, unter welchen Bedingungen die Umfänge diskrete Mengen definieren, welche Zahlangaben erlauben. Diese Frage enthält die Frage, was Zahlangaben bzw. Zahlen sind.

2. Die reine Quantität

2.1 Quantität als Kontinuum möglicher Differenzierung

In quantitativen Reden unterstellt man bereits die Bekanntheit vieler Möglichkeiten qualitativer Unterscheidungen, sieht aber ab von den konkreten Ausprägungen ihrer Kriterien und spricht über das durch sie Ausgegrenzte so, als sei es unmittelbar verfügbar. Man tut so, als sei die qualitative Unterscheidung sekundär, als gäbe es das je Unterschiedene vor und unabhängig von diesen Unterscheidungen. Z. B. unterstellt der gesunde Menschenverstand, es sei schon klar, was Körperdinge seien, die wir unter vielerlei Hinsichten und subjektiven Interessen klassifizieren können. Ungefähr dieses sagt Hegels Erläuterung:

“Die Quantität ist das reine Sein, an dem die Bestimmtheit nicht mehr als eins mit dem Sein selbst, sondern als aufgehoben oder gleichgültig gesetzt ist” (Enz. § 99).

Viele durch qualitative Aussonderungen definierte Klassifikationen in schon als Quantitäten bestimmten Bereichen sind sekundär, und das heißt, methodisch in folgendem Sinn einer primären Gegenstandskonstitution nachgeordnet: Sie unterstellen, daß der Gegenstandsbereich schon bekannt oder definiert ist, in welchem prädikative Aussonderung definierbar sind. Man denke etwa daran, wie wir aus den Zahlen die Primzahlen aussondern oder aus den Körperdingen diejenigen, die eine gewisse größe überschreiten oder eine gewisse Farbe haben. In beiden Fälle unterstellen wir die Zahlen bzw. die Körperdinge als wohldefiniert und in einer Art quantitativen Gesamtbereich als gegeben.

Die Unterscheidung Lockes zwischen primären und sekundären Qualitäten (von Körpern) bildet den historisch-systematischen Hintergrund dieser auch von Kant aufgegriffenen Differenzierung zwischen gegenstandskonstitutiven (primären) und sekundären Differenzierungen. Als primäre Eigenschaften von Körperdingen zählt insbesondere ihre haptisch kontrollierbare Undurchdringlichkeit, ihre auch temporal einigermaßen stabile Widerständigkeit. Hegel spricht von einem “Sinne des Gefühls,” in welchem “das Abhalten eines andern von sich unmittelbar gegeben sei” (WdL I, 171 f.; GW 21, 168).

Körperdinge lösen sich auch nicht plötzlich in Luft oder gar in Nichts auf. Dieser Satz hat begrifflichen, wenn man will: synthetisch-apriorischen, Status, ohne daß er deswegen ‚erfahrungsfrei’ wäre. Wäre er falsch, hätten wir nicht bloß epistemische Probleme bei der Identifikation von Dingen über gewisse Zeiten hinweg, sondern logische Probleme bei der Definition der Dingidentität.

Schon die optischen Eigenschaften, die Sehgestalten, sind für die Dingidentität im Grunde sekundär (auch wenn das Locke noch nicht so sah), ganz zu schweigen von Farben, Gerüchen, vom Geschmack und Gehör. Denn letztere sind für die Definition der Identität des Dinges im Grunde gleichgültig, auch wenn sie für Identifizierungen äußerst wichtig sein mögen. Das aber heißt zugleich, daß wir in primärer Rede über Dinge, nämlich über die die Dinge definierenden kontinuierlichen haptischen Eigenschaften in ‚Raum und Zeit’, zunächst von allen anderen Eigenschaften absehen. Dieser Gedanke ist in der cartesischen Auffassung eines Dinges als res extensa verdichtet. Der Nutzen dieser Abstraktion ist offensichtlich, auch wenn er im Detail hier nicht zur Debatte steht, außer wenn wir im Abschnitt 7.2 im Kontext der Maßbestimmung von Zeit, Raum und Masse auf Hegels Kritik am Begriff der res extensa gerade auch bei Kant zurückkommen und auf seine ‚holistische’ Forderung, Körperdinge und ihre Massen im Gesamtkontext einer möglichst situationsinvarianten Darstellung der Relativbewegungen von solchen Dingen zu definieren. Für jetzt ist nur wichtig zu sagen, daß es falsch ist, mit Locke oder auch Kant anzunehmen, die sekundären Dingeigenschaften seien weniger objektiv oder real als die primären.

Etwas konkreter erläutert Hegel, was er unter einer Quantität versteht, und zwar am Beispiel jener

“Stetigkeiten, die den deduzierten Begriff der Quantität in einfacher Anschauung als vorhanden geben.” “Bestimmtere Beispiele der reinen Quantität, wenn man deren verlangt, hat man an Raum und Zeit, auch der Materie überhaupt, Licht usf., selbst Ich” (WdL I, 182; GW 21; 178 f.).

Ausgehend von konkreten, endlichen, und als solchen diskreten Raum- und Zeitbestimmungen, etwa auch Messungen spricht man unter den Titeln “der Raum” bzw. “die Zeit” abstrakt und idealiter über ‚alle möglichen’ Verfeinerungen von Maßbestimmungen und ‚alle möglichen’ Ausdehnungen des Bereiches des Gemessenen. Ähnliches gilt für “die Materie” und ihre Teile (vgl. dazu auch WdL I, 182; GW 21; 178 f.), aber auch für “das Licht” als Titel für alle möglichen quantitativen Differenzierungen optischer Phänomene.

In der Erläuterung, warum dem Ich, das hier zu verstehen ist als Einheit des individuellen Selbst-Seins des Sprechers oder Akteurs, “die Bestimmung der Quantität” zukommt, bestätigt Hegel, daß die Quantität als solche ein Kontinuum, ein Zusammenhang möglicher Differenzierungen ist,

“die durch die unendlich mannigfaltigen Grenzen, den Inhalt der Empfindungen, Anschauungen usf. nicht unterbrochen ist” (WdL I, 182; GW 21, 179),

und zwar weil diese als meine gewertet werden. Das heißt nicht, daß ich nicht in der Rede über mich viele Unterschiede machen könnte. Das Gegenteil ist der Fall: Die Identität meines Selbst-Seins und Selbst-Bewußtseins besteht geradezu in der Möglichkeit dieser Unterscheidungen innerhalb meines ‚Fürsichseins’, das wiederum in Abgrenzung von anderem ‚Fürsichsein’ bestimmt ist.

Der Titel “Für-Sich-Sein” steht bei Hegel über allen inneren Unterscheidungen und Beziehungen eines Gegenstandes, also über alle Differenzierungen, die ‚feiner’ sind, als die Gegenstandsidentität bzw. die sie definierende Nichtunterscheidung vorsieht. Anders gesagt, Gegenstandsunterscheidungen sind gröber als alle Beziehungen des ‚Fürsichseins’, gerade so wie intensionale Differenzierungen extensionsgleicher Repräsentationen feiner sind als das, was als Extension oder Referenz durch sie in unterschiedlicher Weise repräsentiert oder präsentiert wird. Neue, feinere, Äquivalenzen können manche intensionale Differenzierungen in extensionale verwandeln, ohne daß deswegen der relative Unterschied zwischen Intension und Extension aufgehoben wäre. Wenn man daher in der Carnap-Nachfolge Intensionen als ‚Funktionen’ von Mengen in Mengen definieren möchte, übersieht man, daß die Funktionen als Wertverläufe Extensionen sind, die ihrerseits intensionale Unterschiede in der Art des Gegebenseins der Wertverläufe voraussetzen. Eben daher sind für Frege Funktionen keine Gegenstände (keine Extensionen). Damit sehen wir aber auch, daß die Titelwörter “Für-sich-sein” und “Für-anderes-sein” relative logische Titel sind. Eine Relation des “Für-anderes-Sein” ist z. B. die Kleiner-Ordnung a

2.2 Primäre Konstitution von Bereichen diskreterGegenstände

Wie kommen wir nun von Differenzierungen in kontinuierlichen Bereichen zu diskreten Gegenstandsbereichen? Der folgende Text gibt Auskunft, wenn auch auf zunächst recht kryptische, in einigen Punkten etwas länger auszulegende, Weise:

“Die Quantität zunächst in ihrer unmittelbaren Beziehung auf sich, oder in der Bestimmung der durch die Attraktion gesetzten Gleichheit mit sich selbst ist kontinuierliche [1] - in der andern in ihr enthaltenenBestimmung des Eins ist sie diskrete größe [2]. Jene Quantität ist aber ebensowohl diskret, denn sie ist nur Kontinuität des Vielen [3];diese [sind] ebenso kontinuierlich, ihre Kontinuität ist das Eins als dasselbe der Vielen Eins, die Einheit [4]” (Enz. § 100).

Ausgangspunkt der Überlegung sind gemeinsame Differenzierungen in einem Bereich wahrnehmbarer, genauer, gemeinsam in einer präsentischen ‚Anschauung’ als gegeben beurteilbarer Phänomene. Diese bilden ein Kontinuum, einen stetigen Zusammenhang, der als Bereich verfeinerbarer Differenzierbarkeiten aufzufassen ist. Als Beispiel betrachte ich absichtlich nicht den Fall der Konstitution von Dingen im Ausgang von Dinganschauungen, sondern beginne mit Farbprädikaten wie ‚dies ist blau, dies ist rot’. Durch eine Operation der abstraktiven Nominalisierung können wir dann übergehen zur Rede über abstrakte Gegenstände wie ‚das Rot(e)‘, ‚das Blau(e)’ usf., die dann für sich benennbare ‚Elemente’ einer Klasse, in unserem Beispiel: der Farben, sind. Wenn der Ausdruck “die Farben,” wie durchaus häufig, eine Klasse disjunkter Farben meint und nicht das Kontinuum der Farbigkeit, so hängt seine Bedeutung offenbar vom zugrunde gelegten System der Farbdifferenzierungen ab. Bei der Klassenbildung handelt es sich also, inhaltlich gesehen, um den durch gesetzte Nichtunterscheidungen vermittelten Übergang von verschiedenen phänomenalen Repräsentationen zu den durch diese repräsentierten abstrakten (‚allgemeinen’) Gegenständen. Dies ist formal betrachtet gerade die Konstitution der Bedeutung nominalisierter Prädikatworte.

Es versteht sich von selbst, daß innerhalb der Elemente der Klassen, also etwa innerhalb des Roten, weitere Feindifferenzierungen möglich sind und daß zugleich das im Roten nicht Unterschiedene (die Attraktion des Rot) ein Kontinuum, ein stetiger Zusammenhang ist. Diese Stetigkeit besteht aber selbst nur darin, daß man auf indefinite, nicht vorher absehbare Weise weitere Feindifferenzierungen treffen könnte, wenn man wollte und den Aufwand nicht scheute. So besteht ja auch das Kontinuum einer Linie gerade darin, daß sie sich ‚im Prinzip’ immer in weitere Intervalle zerlegen läßt. Auch die innere Identität von Körperdingen ist ein derartiger stetiger Zusammenhang, der sich unter allerlei Gesichtspunkten weiter teilen läßt – wobei uns besonders der Zerfall der Körper in der Zeit zu derartigen weiteren Teilungen zwingt. Diese Art der Teilung heißt bei Hegel später “Chemismus,” da sie zu den chemischen Stoffen führt. Der Titel “Mechanismus” überschreibt dann die Sprachform, gemäß welcher die primären Eigenschaften wiedererkennbarer Körperdinge relative Bewegungseigenschaften der res extensa sind. Stoffliche Materie, etwa schon Gase, sind als solche keine normalen Dinge mehr.

Der Prozeß der primären Abstraktion besteht nun im folgenden: In den qualitativen Gliederungen der Sphäre des wahrnehmbaren Daseins oder der Realität sehen wir von allerlei Unterscheidungen ab, die ‚im Prinzip’ zwar möglich sind, aber für unser jeweiliges Interesse nicht relevant sind. Dadurch sind zunächst Gleichheiten und Ungleichheiten z. B. zwischen Gestalten oder Farben oder auch Dingen konstituiert, dann aber, durch diese, auch Einsen oder Elemente oder Gegenstände, die ‚repulsiv gegeneinander stehen’, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß es eine hinreichend gute gemeinsame Unterscheidungs- und Identifizierungspraxis gibt, in welcher wir den Gegenstandsbereich in diskrete Elemente zerfällen. So stehen z. B. Dreieck gegen Viereck, Rotes gegen Grünes, ein konkreter Stuhl gegen einen anderen oder gegen einen konkreten Tisch, weil wir sie einander gegenüber stellen. In bezug zum Ausgangsbereich des Prozesses, der dann die ‚primäre’ Klasse oder oberste Gattung eines Rede- oder Gegenstandsbereiches bildet, wird die sonst völlig formale Relation der diskreten Verschiedenheit (Hegels Repulsion) und die Pseudobeziehung der (inneren) Attraktion oder der Identität der Elemente erst konkret.

Die Gattung, das Genos, der primäre Gegenstandsbereich, bestimmt dabei jeweils den Gegenstandsbegriff kategorial. Und jeder Gegenstand repräsentiert seine Gattung, gehört semantisch wesentlich zu ihr. Dies spiegelt sich auch in den Gegenstandsnamen. Diese müssen, wenn sie verstanden werden sollen, zuvor schon kategorisiert, d. h. in den zugehörigen Redebereich eingeordnet sein. Wenn etwa einer das Wort “Eiffelturm” gebraucht, ist es wesentlich zu wissen, ob er an den Turm in Paris oder seine Gestalt denkt (so daß auch Nachbilder so benannt werden). Hört man regelmäßig beim gemeinsamen Anblick eines Kaninchens in einer fremden Sprache einen Satz, den man in einer Art Halbübersetzung durch den halbdeutschen Ausdruck “dies ist gavagai” wiedergeben könnte, dann ist, wie W.V. Quine zu seinem eigenen Beispiel zu Recht bemerkt, noch keineswegs geklärt, ob von Gestalten, Kaninchenteilen, einer Kaninchen regelmäßig begleitenden Aura oder wirklich von Kaninchen die Rede ist. Derartiges herauszufinden, ist, wie Hegel schon vor Quine bemerkt hat, keine Sache einer unmittelbar lehr- und lernbaren Prädikation in der Deixis. Dies verlangt schon eine Art ‚holistisches’ Gesamtverständnis eines ganzen logikogrammatischen Systems, eine Beherrschung der Redeformen der jeweiligen Kategorie, des jeweiligen Gegenstandsbereiches. Ohne es zu wissen oder anzuerkennen, nimmt Quine die Kritiklinie Hegels wieder auf, wenn er sich gegen die zwei Dogmen des Empirismus, den Glauben an unmittelbar Gegebenes und ein formalistisches Verständnis begrifflicher Wahrheiten wendet. Kritisiert wird damit auch eine allzu einfache Vorstellung der Bestimmung von intensionalem Sinn und referentieller (extensionaler) Bedeutung in einer elementaren Prädikation und deiktischen Anschauung.

Spricht einer von der Farbe Rot, so ist es, um zu unserem Beispiel zurückzukehren, wichtig zu wissen, ob er sich auf unsere normalen Farbunterscheidungen bezieht oder ob der Redekontext physikalisch ist, so daß vielleicht auch Infrarot und Ultraviolett zu den optischen (Farb-)Phänomenen zählen, so wie allerlei Vibrationen, die gar nicht mit dem Ohr wahrgenommen werden können, physikalisch zur Akustik zählen. In all diesen Fällen bestimmt die Attraktion der Klasse, der Zusammenhang des Gesamtbereichs, auch die Identität seiner möglichen Elemente.

“Repulsion” und “Attraktion” sind bei Hegel also Benennungen formaler Momente der semantischen Konstitution von Gegenstandsbereichen. Durch gewisse qualitative Unterscheidungen und gewisse Nichtunterscheidungen (Äquivalentsetzungen) in einem kontinuierlichen Ausgangsbereich erzeugen wir sozusagen Gegenstände und Gegenstandsmengen. Die Farben Rot, Grün usf. gibt es auf der Basis der Möglichkeit von Farbunterscheidungen einerseits, des Verzichts auf gewisse feinere Unterscheidungen andererseits. Räumliche Gestalten gibt es auf der Basis der Möglichkeiten der in der Anschauung kriterial kontrollierten Gestaltunterscheidungen und Gestaltgleichheiten. Körperdinge gibt es im Zusammenhang der Dingunterscheidung und Dingidentifizierung.

Aussagen über Gestalten, angewendet auf den Bereich von Dingen, definieren Klassen gestaltgleicher Dinge. Es läßt sich aber die Bedeutung von Gestaltworten nicht einfach identifizieren mit der betreffenden Klassifizierung der Dinge. Dies gilt nur dann, wenn man die Dingsprache schon als bekannt unterstellt. Nicht jede quantitative Redeform hat Dinge als Einheiten. Wir sprechen ja direkt über geometrische Gestalten (Bilder) oder über akustische Formen (Rhythmen, Melodien), über Zahlen und vieles andere mehr.

Nach diesen systematischen Vorarbeiten können wir die oben zitierte Passage im einzelnen erläutern:

ad [1]: Das Kontinuum wie z. B. des Farbigen und seine Einteilbarkeit in diskrete Elemente, in unserem Beispiel in die Farben Rot, Grün usf., bilden die unmittelbare Beziehung der Quantität auf sich selbst, die den Rahmen des zu konstituierenden Gegenstandsbereiches der Farben von, sagen wir, Tönen oder Dingen abgrenzen. Es sind nicht nur die Grundbereiche, sondern auch die je besondere Art der Unterscheidungen und Nichtunterscheidungen, durch die wir unter anderem zwischen folgenden weiteren Kategorien von Rede-Gegenständen differenzieren: Gestalten, Ereignisse, nominalisierte Dingeigenschaften, Gerüche, dann aber auch zwischen Zahlen und Mengen und abstrakten geometrischen Formen usf. Diese Unterscheidungen werden als kategoriale besonders klar, wenn man sie nicht beachtet, sich also etwa nicht um zugehörige Beschränkungen zulässiger Prädikate kümmert und etwa Zahlen oder Gerüche sehen will, den Ort einer Form oder einer Ding-Menge (statt eines Ding-Haufens) sucht usf.

ad [2]: Die Differenzierungen verschiedener Farben und die Identifizierungen der je als ‚gleich’ bewerteten und benannten Farbe definieren in unserem Beispiel die Einsen oder Elemente der dann diskreten Klasse der bestimmten Farben Rot, Blau usf. Entsprechendes gilt für Differenzierungen und Identifizierungen von Körperdingen, auch wenn das besondere, hier im Detail nicht näher angesprochene, Problem der Situations- und Zeitinvarianz hinzukommt, also die Frage, wie die Identität eines Dinges über die präsentische Aufgliederung des Anschauungsraumes in Dinge und Zwischenräume hinaus zu bestimmen ist.

Ad [3]: Man nennt den jeweiligen Ausgangsbereich, etwa des Farbigen, kontinuierlich nur insofern, als er fortgesetzt feinere Differenzierungen und Klassenbildungen erlaubt, so wie eine Linie nur wegen der Möglichkeit immer feinerer Unterteilungen in Intervalle kontinuierlich heißt. In Bezug auf faktische Differenzierungen ist alles immer endlich und diskret. Eine Linie ist z. B. faktisch immer nur in endliche Teile geteilt. In bezug auf eine derartige faktische Teilung, aber auch nur in einem derartigen Bezug, kann man einer Linie immer auch eine diskrete Menge von Linienstücken (nicht etwa von Teilpunkten!) als Bestandteilen zuordnen. Die Linie ist als solche von der indefinit-unendlichen Menge aller möglichen ihrer Teilpunkte unterschieden.

ad [4]: Daß die Einsen, die Elemente oder Individuen der Quantität, selbst kontinuierlich sind, haben wir schon erläutert: Gerade sie lassen sich weiter unterteilen, und zwar durchaus so, wie innerhalb der Farbe Rot weitere gemeinsame Differenzierungen möglich oder in oder an einem Körper räumliche Teile oder zeitliche Phasen unterscheidbar sind.

Sogar für einen Punkt in einer idealen geometrischen Form, etwa den Schwerpunkt eines Dreieckes gilt: Er hat als solcher unendlich viele Repräsentanten. Er ist, im Unterschied zu einer Stelle im präsentischen Dasein, keineswegs ein ‚Dieses Da’. Geometrische Punkte der ebenen Geometrie sind Schnittpunkte von Linien in geometrischen Formen oder Konstruktionen, die als ebene Zeichnungen überall und in vielen Größenordnungen ausführbar sind und dann, idealiter oder ‚im Prinzip’, in allen Größen als ausführbar gedacht werden. Auf die ihm eigene, dichte, Weise sagt dies Hegel so: Die Geometrie mißt nicht, sie vergleicht nur (WdL I, 199; GW 21, 196). Abstrakte geometrische Punkte sind raum- und zeitlos, gerade wie ihre reinen cartesischen Koordinatenbeschreibungen. Es ist also weder die Identität (das Fürsichsein) eines Punktes in einer geometrischen Form deiktisch definiert, noch lassen sich Zahlen an sich ‚zeigen’.

Unsere Interpretation wird durch Hegels eigene Anmerkungen bestätigt, wo er – inhaltlich gelesen – sagt: Es gibt nicht eigentlich diskrete und kontinuierliche Größen, sondern immer nur diskrete und kontinuierliche Aspekte einer Unterscheidungspraxis, die abhängen von den je gewählten Bestimmungen oder Differenzierungen. Gewissermaßen als Anwendung dieser Einsicht lösen sich gewisse Antinomien der unendlichen Teilbarkeit auf:

“Die Antinomie des Raumes, der Zeit oder der Materie, in Ansehung ihre Teilbarkeit ins Unendliche oder aber ihres Bestehens aus unteilbaren, ist nichts anderes als die Behauptung der Quantität das einemal als kontinuierli-cher, das anderemal als diskreter. Werden Raum, Zeit usw. nur mit der Bestimmung kontinuierlicher Quantität gesetzt, so sind sie teilbar ins Unendliche; mit der Bestimmung diskreter größe aber sind sie an sich geteilt und bestehen aus unteilbaren Eins; das eine ist so einseitig wie das andere (Enz. § 100).”

An sich geteilt ist der Raum, wenn er als diskret, in der modernen Mathematik etwa als Menge von Tripeln reeller Zahlen dargestellt wird; entsprechendes gilt für die Zeit. Kontinuierlich heißen Raum und Zeit unter der Vorstellungen der unendlichen Teilbarkeit einer jeden Strecke bzw. eines jeden Intervalls. Beide Vorstellungen sind einseitig: Realiter gibt es kein unendliches Kontinuum, wie wir noch genauer sehen werden. Jede Unendlichkeit ist ideales Konstrukt einer mathematischen Redeform, in der wir Formen der Fortsetzbarkeit einer Operation thematisieren. Andererseits geht die Mathematikkritik des radikalen Finitismus (etwa auch Humes) viel zu weit. Es ist auch nach Hegel unsinnig, unsere Reden über Unendlichkeiten in Bausch und Bogen zu verwerfen, statt sie in ihren Formen, Möglichkeiten, Grenzen und ihrer Bedeutsamkeit zu begreifen.

3. Das Quantum

###3.1 Größen als bestimmte Quantitäten

Größen sind, im Unterschied zu reinen Quantitäten, ganz grob gesagt, bestimmte bzw. benannte (ganze, rationale oder dann auch reelle) Zahlen der Art “2 Äpfel” oder “3/4 cm.” In der Benennung einer Zahl wird die Zähleinheit benannt: Man zählt Äpfel, Einheitslängen wie cm oder m, Volumina wie Liter (einer bestimmten Flüssigkeit) usf. Die Einheit ist beim Zählen empirischer Gegenstände durch eine (qualitativ definierte) Gleichheit unterschiedener Elemente bestimmt: Insofern etwas ein Apfel ist, ist es gleich jedem anderen Apfel, insofern eine Strecke 1 cm lang ist, ist sie gleich jeder Strecke der Länge 1 cm. Für das Zählen ist es egal, ob man eine Menge von n Äpfel oder n Pflaumen oder die Menge der n Vorgängerzeichen des Zahlausdrucks “n+1” als Maßstab (als Zählmenge) benutzt: Gezählt werden die Elemente einer zu zählenden (abstrakten) Menge, indem man sie irgendwie umkehrbar eindeutig den Elementen der Zählmenge zuordnet. Unbenannte Größen sind reine Proportionen, zu denen insbesondere alle reinen, unbenannten, nichtnegativen rationalen und reellen Zahlen zu zählen sind. Die Konstitution des Begriffs der benannten und der reinen größe wird unter dem Titel “Quantum” behandelt:

“Der Ausdruck größe ist insofern für Quantität nicht passend, als er vornehmlich die bestimmte Quantität bezeichnet” (Enz. § 99).

Dabei müssen wir zwischen verschiedenen Stufen der Abstraktheit der Benennungen bzw. Bestimmungen von Größenbereichen unterscheiden: Längen, Flächen und Volumina sind kontinuierliche Quantitäten. Längeneinheiten sind gerade deswegen willkürliche Setzungen, weil man ebensogut einen Teil zur Einheit, zum Grad oder Zählschritt, erklären könnte. Mengen sind zwar als solche diskret. Sie sind dies aber, wie wir schon angedeutet haben, nur nachdem man in einer primären Klassenbildung abstrahiert von den inneren Kontinuitäten ihrer Elemente. Diese sind selbst immer als konkrete Klassen ihrer Repräsentanten zu begreifen und daher immer weiter teilbar. Im logischen Sinn gibt es keine ‚Atome’. Selbst wenn es kleinste dingartige physische Objekte d gäbe (es gibt sie, wie gesagt, nicht) könnte man immer noch feinere Äquivalenzrelationen einführen, die zwischen einem d hier und einem d dort, einem d jetzt und einem d dann oder damals zu unterscheiden erlauben. Damit wird auch klar, daß Hegels Anti-Atomismus eine logische Einsicht in die Kontinuität unserer begrifflichen Bestimmbarkeiten und kein physikalisch-kosmologisches Vorurteil ist.

Unsere Deutung von Größen als benannten Zahlen bestätigt sich im Fortgang der Erläuterung:

“Die Mathematik pflegt die größe als das zu definieren, was vermehrt oder vermindert werden kann; so fehlerhaft diese Definition ist, indem sie das Definitum selbst wieder enthält, so liegt doch dies darin, daß die Größebestimmung eine solche ist, die als veränderlich und gleichgültig gesetzt sei, so daß unbeschadet einer Veränderung derselben, einer vermehrten Extension oder Intension, die Sache, z. B. ein Haus, Rot, nicht aufhöre, Haus, Rot zu sein” (Enz. § 99).

Es werden in der Tat nicht die Größen, die benannten Zahlen, vermehrt oder vermindert, sondern es entstehen durch Veränderungen der Zahlangaben (etwa der 3 durch die 5 im Ausdruck “3 cm”) bei gleicher ‚Benennung’ (der Größeneinheit) andere Größen. Die zitierte formelartige Ausdrucksweise der Mathematiker meinte freilich etwas anderes, nämlich daß in Klassen von (reinen) Größen eine archimedische Ordnung definiert sein muss. Das heißt, für Paare reiner Größen g und g* muss immer gelten, daß es eine natürliche Zahl n gibt, so daß g*

3.2 Benannte Größen und reine Zahlen

“Die Quantität wesentlich gesetzt mit der ausschließenden Bestimmtheit, die in ihr enthalten ist, ist Quantum, begrenzte Quantität” (Enz. § 101).

Hegel gebraucht das Leibnizsche Bild des Enthaltenseins, um eine Präsupposition auszudrücken: In jeder Rede von einem bestimmten Quantum, einer größe, ist erstens eine “ausschließende Bestimmtheit,” nämlich die Definition der größe ‚enthalten’, zweitens ist die zugehörige Quantität, z. B. der Bereich der Längen, Zeiten oder Volumina (Räume), schon vorausgesetzt, in welcher die größe durch Ausgrenzung bestimmt ist. Man denke an die Bestimmung einer Länge wie 1 cm, einer Zeit wie 1 Stunde, eines Rauminhalts wie 1 m3, aber etwa auch eines Körperdings im Bereich der Dinge.

Ein Quantum ist also ein ausgegrenztes Element in einem quantitativen Bereich, eine bestimmte größe. Qua Ausgrenzung (ausschließende Bestimmtheit) ist ein Quantum endlich. Zugleich ist eine Größenordnung definiert. Dabei ist zwischen der Inklusion konkreter Größen (man denke an eine Fläche, die in einer anderen liegt) und der Ordnung abstrakter (reiner) Größen zu unterscheiden: Abstrakte Größen entstehen durch Gleichsetzung größengleicher Repräsentanten. Deren Ordnung ist dann so definiert: Eine Länge a ist größer als eine Länge b (oder ihr gleich), wenn die erste einer Linie s, die zweite einer Linie s* ‚entspricht’ und wenn s in s* echt enthalten (oder ihr gleich) ist. Entsprechendes gilt für Flächengrößen, abstrakte Volumina, und a fortiori für diskrete Mengen: Eine Menge A ist ‚größer’ als eine Menge B, wenn es eine bijektive Einbettung f von B in A gibt, aber keine von A in B.

“Die Bestimmungen des Begriffs der Zahl sind die Anzahl und die Einheit, und die Zahl selbst ist die Einheit beider. Die Einheit aber, auf empirische Zahlen [durch konkrete Mengen benannte Zahlen] angewendet, ist nur die Gleichheit derselben” und diese ist eine umkehrbar eindeutige, bijektive, Abbildung der Elemente, welche die die Relation der Gleichzahligkeit definiert.

Die Größengleichheit, d. h. die quantitative oder mathematische Gleichheit a=b, ist, wie Hegel bemerkt, durch eine Art systematischer Doppeldeutigkeit definiert. Nach dieser sind die a und b zunächst selbst Repräsentanten (etwa verschiedene Ausdrücke), die in Bezug auf ein Interesse an einer Unterscheidung (‚negatio’) als nicht zu unterscheiden und damit als äquivalent bewertet werden. Eine Gleichsetzung ist damit eine Negation der Negation. Man gebraucht dann die Repräsentanten als einfache Namen für das abstrakt Gleichgesetzte, den jeweiligen abstrakten Gegenstand, und verwandelt damit eine Äquivalenzrelation in eine Identitätsaussage. Dabei deutet schon Hegel das Leibnizprinzip der Ununterscheidbarkeit des Gleichen konstitutionslogisch statt ontisch: Es sind die zulässigen Prädikate und Unterscheidungen an die Identitäten anzupassen, und umgekehrt sind die Identitäten an die interessierenden Prädikate anzupassen.

Abstrakte Größen und ihre Ordnungen sind also definiert durch (idealisierende) Äquivalenzen zwischen ihren konkreten Repräsentanten und deren Ordnungen. Dies gilt z. B. für die Längengleichheit in einer geometrischen Form und für die Gleichheit von Zeitdauern zweier Ereignisse an gleichen und dann auch an verschiedenen Orten zu gleichen oder zu verschiedenen Zeiten.

Paradigma für ein reines oder abstraktes Quantum ist eine endliche Zahl oder dann auch eine abstrakte Länge als Repräsentant einer unbenannten, weil gegen jede Benennung gleichgültigen Größenproportion. Eine Länge, verstanden als Verhältnis zur Einheitslänge, repräsentiert ja zugleich proportionale Verhältnisse zwischen Flächen, Volumina, Winkeln oder etwa auch Zeiten. Sie selbst wird üblicherweise repräsentiert auf einer Zahlgeraden, etwa in einem Koordinatensystem, in dem dann auch die anderen Größen repräsentiert sind: Die Winkel und Flächen und Volumina oder auch die Zeiten. Auf diese reine Quanten beziehen sich die algebraischen Buchstaben der cartesischen analytischen Geometrie.

Ein konkretes benanntes Quantum ist ein in Zahlen ausgedrücktes Ergebnis einer empirischen Messung auf der Basis eines konkreten Einheitsmaßes oder Maßstabes. Dieser macht seinerseits den noch abstrakten Grad konkret: Ein Meter ist gewissermaßen durch die Klasse guter, auch nach Bewegungen ‚gleich langer’, Meterstäbe definiert. Ein Grad ist zunächst ein abstrakter Meßschritt. Konkrete Beispiele, die durch eine Maßeinheit in bezug auf einen Maßstab ‚benannt’ sind, kennen wir als Zentimeter, Stunde, Kilopond o.ä. Ein konkretes Quantum, das einen Grad repräsentiert, also ein Maßstab im wörtlichen Sinn, heißt “Einheitsmaß.” Ein Maß überhaupt ist ein gemessenes Verhältnis zu einem Einheitsmaß oder Standard.

Hegels Überlegung führt also von der abstrakten Quantität, dem reinen Quantum, der Zahl, zum Grad, der abstrakten Zahlbenennung, und dann zur konkreten Messung, in der die benannten abstrakten Zahlen erst Sinn und Bedeutung im traditionellen Sinn, d. h. einen Bezug zur Realität erhalten.

Zunächst aber geht es um die Konstitution des abstrakten Begriffs der Menge und (An)Zahl:

“Das Quantum hat seine Entwicklung und vollkommene Bestimmtheit in der Zahl, die als ihr Element das Eins [1], nach dem Momente derDiskretion die Anzahl [2], nach dem der Kontinuität die Einheit [3], als seine [i.e. des Quantums] qualitativen Momente, in sichenthält [4]” (Enz. § 101).

Eine bestimmte Menge ist bestimmt und von anderen unterschieden durch ihre Elemente oder Einsen [1] und dann auch durch ihreKardinalität. Diese ist die Anzahl der Elemente [2]. Die Einheiten (Elemente oder Grade) machen eine Benennung der Menge und ihrer Elemente und über diese eine Zahlbenennung erst konkret. Die mit [3] bezeichnete Stelle spricht also, wie schon im Texteinschub angedeutet, von einer benannten Zahl wie “5 Steine.” Aber nicht nur benannte ganze Zahlen, Zahlen überhaupt lassen sich nicht anders als über qualitativ bestimmte Mengen benennen [4], auch wenn dies im Gebrauch der Zahlworte nicht so scheint.

“In der Arithmetik pflegen die Rechnungsarten als zufällige Weisen, die Zahlen zu behandeln aufgeführt zu werden. Wenn in ihnen .. Verstand liegen soll, so muss derselbe in einem Prinzip, und dies kann nur in den Bestimmungen liegen, die in dem Begriffe der Zahl selbst enthalten sind; dieses Prinzip soll hier kurz aufgezeigt werden. - ..(es) muss das Prinzip der Rechnungsarten sein, Zahlen in das Verhältnis von Einheit und Anzahl zu setzen und die Gleichheit dieser Bestimmungen hervorzubringen (Enz. § 101).”

Das Prinzip der Grundrechenarten liegt dann darin, daß, wie Hegel ganz richtig sagt,

“Rechnen .. überhaupt Zählen ist.”

Die kalkülmäßig gelernte Addition n+m (etwa auf dem Papier oder einem Rechengerät) ist schnelles Zusammenzählen. Die auf der Basis eines auswendig gelernten Einmaleins ebenfalls schematisch ausführbare Multiplikation n mal m ist schnelles Addieren: Man braucht jetzt nicht mehr n disjunkte Mengen der Anzahl m zu vereinigen, um dann den Ausdruck der Anzahl der entstehenden Menge in der Zahlenreihe durch Zählen zu bestimmen. Die Multiplikation ist eine Kalkültechnik zur schnellen n-fachen Addition. Es ist dabei n Exponent der Operation, m die Basiszahl. Bekanntlich lassen sich hier die Faktoren in ihrer Rolle auch vertauschen. Beim Potenzieren ist dagegen, wie Hegel sagt, “Anzahl und Einheit [der Multiplikation] gleich.” Er betrachtet also als dritte Grundrechenart nicht das allgemeine Potenzieren mn, sondern einfach das Quadrieren m2: Hier ist die Einheit (eine m-zahlige Menge) gleich der Anzahl, die sagt, wie oft derartige Mengen disjunkt miteinander vereinigt werden sollen.

“Da in dieser dritten Bestimmung die vollkommene Gleichheit des einzigen vorhanden Unterschieds, der Anzahl und der Einheit erreicht ist, so kann es nicht mehrere als diese drei Rechnungsarten geben.”

Zwar repräsentiert nicht nur das allgemeine Potenzieren (etwa als Hilfsmittel zum schnellen Multiplizieren und Dividieren), sondern jede beliebige (primitiv) rekursive Funktion eine arithmetische Rechnungsart. Es ist dennoch sowohl üblich als auch plausibel, die genannten drei Rechnungsarten: das Addieren, Multiplizieren und Potenzieren als Grundrechenarten zu betrachten, zusammen mit ihren Umkehrungen, der Subtraktion, Division und dem Ziehen von Quadratwurzeln.

In einer mathematischen Potenz n2 kommt, wie sich Hegel ausdrückt, die Zahl n zunächst in folgenden Sinn ‚zu sich selbst’: Sie ist zugleich Basis der Operation (des Addierens) und Exponent. Als Exponent sagt sie, wie oft n mit sich selbst addiert werden soll. Hegel weist damit erstens auf den Doppelcharakter einer Zahl n hin: Als Kardinalzahl repräsentiert sie irgendeine n-Anzahl von Gegenständen oder Elementen, als (ordinale) Zählzahl dient sie zum (wohlgeordneten) Zählen von Operationen. Freilich ließe sich diese Form auch schon an der Addition n+n zeigen. In gewissem Sinn sind diese ja auch schon Potenzbestimmungen in Hegels allgemeinem Gebrauch des Wortes, der damit alle n-fachen Ausführungen einer Operation überschreibt.

Denkt man nicht bloß an natürliche Zahlen, sondern an reelle Zahlen, die damals in aller Regel noch durch Längen repräsentiert wurden, so sieht man genauer, was es heißt, daß die Addition, Multiplikation und Potenz die drei Grundrechnungsarten sind: Die Addition ist Längenaddition, definiert durch die geometrische Operation der Anfügung einer Strecke an eine andere. Die Längen-Multiplikation ist definiert durch die Konstruktion einer Rechtecksfläche und ihre geometrische Verwandlung in ein flächengleiches Rechteck, dessen eine Seite eine vorgegebene Einheitslänge e hat. Betrachtet man dann die Gleichung y = x·x und die zugehörige Konstruktion eines Quadrats, bzw. des Einheitsrechtecks der Seitenlängen y und e, und dann insbesondere die äquivalente Proportion y:x = x, dann sieht man, was es heißt, daß die (reelle) Zahl x ‚zu sich selbst kommt’: x muss offenbar selbst schon als Längenproportion verstanden sein. Damit gelangt man zur zentralen Identifikation von abstrakten Längen mit Proportionen, welche die cartesische ‚Algebraisierung’ und dann auch die moderne ‚Arithmetisierung’ geometrischer Verhältnisse allererst ermöglicht hat. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Festlegung einer reinen Einheitsgröße e. Für die Multiplikation von e mit sich selbst, also für die Potenz e2, ist nämlich als Wert e festzusetzen. Fügen wir dann noch negative Größen hinzu, gelangen wir zu einem (archimedisch geordneten) Größen- oder Zahlenkörper im Sinn der modernen Algebra, zu einem (Teil)Körper der reellen Zahlen mit seinen zwei Grundrechenarten der Addition und Multiplikation. Die Betrachtung der dritten ‚Grundrechenart’, des Quadrierens, wird in dieser Sicht der Dinge nur für die Bestimmung der Einheit e und die Identifikation e2=e wichtig.

Hegels Argumentationsduktus besteht gerade im Aufweis, welche Voraussetzungen der üblichen, stillschweigenden, Identifikation einer Länge als benannter größe mit einer reinen Proportion oder Zahl zugrunde liegt. Daß in den obigen Gleichungen die Grundlage der analytischen Geometrie zu finden ist, erläutert Hegel in der Wissenschaft der Logik unter dem Titel “Das quantitative Verhältnis” vor dem Übergang zum “Maß.”

Hegel weist außerdem auf die Tatsache hin, daß in einer Längenangabe der Art 1/2 Meter oder auch p Meter der jeweils erste Ausdruck, also “1/2” oder “p,” eine reine Proportion benennt, also im Grunde ein Längenverhältnis, der zweite eine konkrete Klasse benannter Größen, eben der Längen, die entweder durch generische Linien in geometrischen Formen und damit als reine Längen repräsentiert sind, oder als empirische Linien oder Strecken, als gemessene Längen. Beide Seiten eines solchen Ausdrucks sind veränderlich und sind sich insofern gegeneinander ‚äußerlich’ oder ‚gleichgültig’. Ändert man die Einheitslänge oder Einheitstrecke (den Grad, also den Meßschritt, die Maßeinheit), dann muss man allerdings auch die Maßzahl ändern, wenn man das Gleiche messen will. Hält man den Grad fest und ändert die Zahl, mißt man anderes. Wer daher einfachhin Zahlen mit Proportionen und diese mit Längen und diese mit empirischen Strecken identifiziert, gerät unweigerlich in Verständnisprobleme oder Widersprüche.

Ein Ausdruck irgendeiner Zahlzeichenreihe benennt Z. B.(indirekt) die (abstrakte) Menge, die durch die Vorgängermengen resp. Vorgängerzahlen als ihre Elemente, inklusive der leeren Menge oder Null definiert ist. Erst wenn wir die gerichteten Linien der Zahlgeraden als Repräsentanten für reine Größen bzw. reine Proportionen und diese als rationale Zahlen (repräsentiert durch Brüche) und reelle Zahlen, repräsentiert durch monotone und doch begrenzte Folgen rationaler Zahlen, auffassen, sind sie als reine Größen oder Quanta oder Zahlen vollkommen bestimmt und entwickelt. Diese Art der Repräsentation ist die gediegene oder bestentwickelte Repräsentation einer reinen größe, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik (I, 246-248; GW 21, 243-245 und I, 321; GW 21, 308) bemerkt. Den Vorteil gegenüber den proportionslogischen Teildefinition etwa der pythagoräischen oder euklidischen Längen in der klassischen Planimetrie sieht man schon daran, daß es keine geometrische Konstruktion einer Strecke der Länge des Kreisumfangs gibt (auch wenn das in aller Form erst später bewiesen wurde, im Satz von Lindemann, der sagt, daß die Kreiszahl nicht algebraisch ist). In der Theorie der rationalen und reellen Zahlen kommt das Quantitative, Arithmetische, des Begriffs der reellen Zahl viel klarer zum Ausdruck als im Fall der proportionslogischen Längen der Geometrie. Hegel erkennt damit die Bedeutsamkeit des Programms einer Arithmetisierung der noch weitgehend bloß algebraisch-analytischen Geometrie des Descartes. Die Durchführung dieses Programms nach Ansätzen bei Lagrange und Cauchy durch Weierstrass hat dann zur Entwicklung der mathematischen Mengenlehre (Dedekind, Cantor) und Logik (Frege, Russell, Hilbert) geführt.

außerdem sieht Hegel in seiner Kritik an den sogenannten ‚infinitesimalen Größen’ dx und dy, die im wesentlichen Lagrange folgt (WdL 261 f.; GW 21, 258), daß diese gar keine Quanta (WdL I, 254; GW 21, 251) oder Größen im Sinn der Mathematik sind. Reine Größen sind wie oben erläutert, archimedisch geordnet, was für die infinitesimalen Pseudogrößen nicht gilt. Hegel erkennt außerdem, daß für die Ausdrücke “dx” und “dy” selbst keine Gleichungen definiert sind, so daß sie keine ‚Gegenstände benennen’ können. Die Ausdrücke “dx” und “dy” bedeuten damit ‚nicht nichts’ (WdL I, 254; GW 21, 251), sind aber rein synkategorematisch zu deuten (WdL I, 269; GW 21, 265), als bloße Teile komplexer Notationen der Differentialrechnung in der mathematischen Analysis (WdL I, 270; GW 21, 266; WdL I, 278 ff.; GW 21, 273 ff.), die zum Teil sogar bloß eine mnemotechnische Vorstellungshilfe zum Grobverständnis der Bedeutung der Integration darstellt, da unendliche Summen infinitesimaler Größen als solche gar nicht definiert sind. Daher können Infinitesimale auch in der Physik keine ‚Impulse’ benennen, sondern sind nur ein ‚Moment’ in der mathematischen Beschreibung einer (relativen) Bewegungsbahn. Daraus ergeben sich allerlei Kritikpunkte an Newtons ‚Beweisen’ etwa der Additions- und der Produktregel der Differentiation (WdL I, 264; GW 21, 260) oder an der physikalischen Deutung benannter infinitesimaler Pseudogrößen als reale (lokal wirkende) ‚Kräfte’ oder ‚Impulse’ (WdL I, 275; GW 21, 271).

4. Grad und Maß

4.1 Exponenten einer reproduzierbaren Meßoperation

Der Begriff des Quantitativen wäre unvollständig analysiert, würde man nicht den Übergang zur ‚Kategorie’ des Maßes erwähnen und die Rolle der Grade, der Meßschritte, bei der Bestimmung von Maß-, Mengen- und Zahlangaben. Hier geht es nämlich darum, wie bzw. wann Ausdrücke der Art “3 cm” oder “1/10000 Millisekunden” oder -750 Grad C, oder 50000000km/s etwas oder nichts über die reale Welt aussagen können. Zunächst ist klar, daß es reproduzierbarer Standards bedarf, mit denen wir etwas messen. Dabei sind diese hoffentlich so, daß die Ergebnisse hinreichend invariant sind gegenüber der besonderen und einzelnen Situation, in der sich derjenige befindet, der mit dem Standard mißt. Diese Invarianz ist eine von uns gesetzte Norm oder Regel oder ideale Form, freilich eine solche, deren faktische Erfüllbarkeit erstens von unserer Technik und damit von unseren Handlungen und zweitens von unserem inhaltlichen Erfahrungswissen über mögliche Handlungen abhängt, weder allein von uns, noch allein von dem, was wir als die Welt ansprechen.

Strecken bzw. Längen sind Grade oder intensive Größen, wenn sie als in sich einfach betrachtet werden – in bezug auf die durch sie zu messenden anderen, vorzugsweise längeren, Strecken(längen). Letztere sind in dieser Beziehung extensive Größen oder Maße, angegeben durch eine benannte Zahl der Art “6 cm” (vgl. Enz. § 106 ff.), insofern sie in diskrete Teile (Intervalle) geteilt werden und die Anzahl der Teile gezählt werden kann. Mit Graden kann man natürlich nur größere Quanta sinnvoll messen, alle kleineren fallen in die Einheit (das Intervall) der intensiven größe, erhalten damit z. B. die (aufgerundete) Maßzahl 1.

Je nachdem, ob wir ein reales Quantum (also seine Repräsentanten) als Maß oder Zähleinheit (Grad) oder als ein in Bezug auf eine solche Einheit zu messendes Quantum betrachten, ist es intensive oder extensive größe, Einheit oder Vielheit. Wie Strecken kann man begrenzte Flächen, Volumina, Zeiten, Wärmegrade usf. unter Bezugnahme auf unterstellte Einheiten messen.

Grade können im allgemeinen selbst feiner unterteilt werden. Daher sind sie in sich vielfach. Ein Grad ist ja die gesetzte Grenze eines Zählschritts, die bestimmte Einheitsgröße (wie Zentimeter, Meter, Celsiusgrade usf.). Derartige Setzungen sind immer in einem gewissen Rahmen willkürlich. Rationale Maßzahlen n/m entstehen dadurch, daß man einen Grad in m gleiche Teile teilt – wobei die Gleichheit der Teilung bei Strecken weniger Probleme macht als etwa bei Zeitmaßen. Denn was heißt es, daß Zeittakte, die nacheinander liegen, gleich lang sind?

Ein abstraktes Quantum oder eine reine größe, eine positive ganze, rationale oder, falls es um Größenverhältnisse in Formen geht, eine reelle Zahl ist in der Angabe von Maßzahlen Exponent von Graden, also von Meßschritten. Schon im Fall einer rationalen Zahlangabe sind entsprechende Teilungen von Einheitsgraden mit zu berücksichtigen. Ein quantitativer Progreß der bloßen Erhöhung der Maßzahlen bei gleichbleibendem realem Quantum ergibt sich einfach durch fortschreitende Verfeinerung der Grade. Mit der Konventionalität der Wahl der Gradeinteilung erkennt man damit die Trivialität, daß sich bei gleichbleibendem Quantum und veränderndem Grad die Zahl beliebig nach oben erhöhen läßt – gerade so wie sich bei gleichbleibender rationaler Zahl die Zähler eines sie darstellenden Bruches erhöhen, wenn die Nenner erhöht werden. In diesem Sinne erscheint Endliches als aus unendlichen Teilen zusammengesetzt.

Ein anderer unendlicher Progreß besteht darin, daß man vor eine Gradangabe irgendeine beliebige natürliche Zahl schreiben kann, womit man wenigstens eine formale Benennung eines möglichen Quantums erhält. Zunächst war aber die einzig sinnvolle Deutung von benannten Zahlen, daß sie Exponenten einer faktisch möglichen Messung bzw. ihres Ergebnisses sind. Dann gingen wir über zu einer ideativen Extrapolation, in der gewisse Maßzahlen für ‚im Prinzip’ mögliche Ergebnisse einer Messung erklärt werden. Hegel macht nun darauf aufmerksam, daß dieser Übergang zunächst ein ganz formaler ist: Man schreibt eben einfach beliebige Zahlen vor eine Benennung eines Einheitsmaßes. Damit produziert man aber möglicherweise einen Widerspruch, genauer, eine Zweideutigkeit, für den Begriff der Möglichkeit. Es ist nämlich zu differenzieren zwischen faktischer und prinzipieller Möglichkeit. Die erste verbleibt im offenen, indefiniten, Bereich der Realität (der Erfahrung), die zweite geht über zu einer nicht auf unsere realen Meß- und Zählbarkeiten beschränkten idealen Unendlichkeit.

Dieser Analyse geht es um die antimetaphysische Aufdeckung der Naivität der Idee einer scheinbar unmittelbaren Unendlichkeit, der angeblichen unendlichen Mannigfaltigkeit eines Erfahrungsbereichs (etwa der Sinnesdaten, die auch Kant erwähnt) oder einer unmittelbaren Unendlichkeit von Zeit und Raum o.ä. Daß, erstens, die Mannigfaltigkeit der Phänomene kontinuierlich ist, haben wir schon als (fiktiv) unbegrenzte Möglichkeit der Verfeinerung unserer Differenzierungen erkannt. Zweitens ist jede Unendlichkeit über die beliebige Fortsetzung einer Operation und damit als Exponent einer ‚Potenzen-Folge’ konstituiert, welche, wie die natürlichen Zahlen, als nicht begrenzt gedacht werden. Das Quantum sei, so sagt Hegel,

“durch seinen Begriff ein unendliches Hinausschicken über sich. Der unendliche quantitative Progreß [als unendliche Folge von benanntenZahlen, etwa 1 m, 2 m, 3 m usw., oder 1 Stunde, 2 Stunden usw.] ist ebenfalls die gedankenlose [weil ersichtlich äußerliche, bloß formale] Wiederholung eines und desselben Widerspruchs, der das Quantum überhaupt und in seiner Bestimmtheit gesetzt, der Grad [d. h. dereinzelne Operations- oder Meßschritt], ist.” “Über den Überfluß, diesen Widerspruch in der Form des unendlichen Progresses auszusprechen, sagt mit Recht Zeno bei Aristoteles: es ist dasselbe, etwas einmal sagen und es immer sagen” (Enz. § 104).

Man muss die Addition ‚Plus 1’, die Hinzufügung einer (generischen) Länge, die neuerliche Ausführung einer Regel oder eines bestimmten (generischen) Schrittes nur einmal verstanden haben, um sie generell verstanden zu haben. In nichts anderem besteht die Unendlichkeit der Zahlen: Es besteht immer die formale Möglichkeit, eine Nachfolgerzahl zu bilden. Im Prinzip läßt sich jede endliche Menge, welche eine Zahl repräsentiert, durch ein neues Element erweitern, so daß die entstehende Menge die Nachfolgerzahl repräsentiert. Warum hier gesagt wird, daß das Quantum bzw. der Grad ein Widerspruch sei, ist nicht ganz eindeutig auszulegen. Vielleicht ist wieder nur die Zweideutigkeit im Konzept des Quantums oder Grades gemeint, nämlich die zwischen realer Möglichkeit der Maßangaben und idealen oder formalen Maßangaben.

Ein qualitatives Quantum ist das Ergebnis einer realen Messung, in welcher reale Repräsentanten einer spezifizierten Maßeinheit benutzt werden.

“Das Maß ist das qualitative Quantum, zunächst als unmittelbares, ein Quantum, an welches ein Dasein oder eine Qualität gebunden ist” (Enz. § 107). “Das eigentlich immanente Qualitative des Quantums ist .. nur die Potenz-Bestimmung” (WdL I, 348; GW 21, 334).

Die Meßinstrumente und das je zu Messende gehören der Sphäre des Daseins, der qualitativ bestimmten (gegliederten) Erfahrung an.

“Diese Vergleichung ist ein äußerliches Tun, jene Einheit selbst eine willkürliche größe, die ebenso wieder als Anzahl (der Fuß als eine Anzahl von Zollen) gesetzt werden kann” (Enz. § 107).

Das Maß als Meßergebnis hat dann

“sein Dasein als Verhältnis [zwischen Maßstab und dem Gemessenen], und das Spezifische desselben ist überhaupt der Exponent dieses Verhältnisses” (a.a.O.).

Dabei wissen wir inzwischen, was es bedeutet, wenn dieser Exponent eine rationale Zahl n/m ist oder eine reelle Proportion r: Im ersten Fall wird eine Teilung der Einheit in m gleiche Teile für das konkrete m, im zweiten für jedes m als möglich unterstellt. Ferner wird vorausgesetzt, daß klar ist, was die Addition, das Aneinanderfügen der entstehenden neuen Einheiten, bedeutet. Dabei ist eine Zweideutigkeit in Hegels Gebrauchs des Wortes “Potenz” zu beachten. Gemeint ist zunächst, daß Zahlen oder Quanten im Grunde immer als Proportionen bzw. als Exponenten von Maßen und damit einer Operation der Messung zu begreifen sind. Diese sind (hoffentlich) invariant ausführbare Handlungsanweisungen. Die Reproduzierbarkeit der quantitativen Meßergebnisse definiert die Objektivität und Wahrheit einer generischen ‚Vorhersage’, daß eine (Meß-)Handlung dieser und jener Art zu diesem und jenem Ergebnis führt bzw. führen würde. Zweitens suchen wir dann oft nach funktionalen Abhängigkeiten der Exponenten x,y von Maßverhältnissen in unterschiedlichen Maßen. In WdL I, 348 (GW 21, 334) gibt Hegel dafür ein zunächst vielleicht schwer verständliches Beispiel: Eine Variable t beziehe sich auf Situationen (‚Zeiten’), in denen Temperaturen und Temperaturveränderungen der Luft und anderer Stoffe (des Wassers, eines Stücks Eisen usf.) mit einem Thermometer gemessen werden. Gefragt ist nach den Gesetzen der Veränderung der Temperaturverhältnisse in der Zeit, etwa der Erwärmung des Wassers bei gleichbleibender oder dann auch sich verändernder Lufttemperatur.

Bei einer konkreten Messung von unmittelbar Erfahrbarem, wie Z. B.von Streckenlängen oder Zeittakten, erkennt man sofort den Unterschied zwischen Qualität und Quantität: Das, was gemessen wird, kann sich ja qualitativ verändern – mit der Folge, daß sich auch die Maßzahlen ändern. Aber auch der Maßstab selbst könnte sich ändern: Die Meßlatten könnten sich (gegeneinander) dehnen, die Zeittakte der Uhren gegeneinander mal länger, mal kürzer werden, wie dies bei Pendeln ja auch der Fall ist, auch wenn wir die Gangunterschiede mechanisch klein halten können. Nichtsdestotrotz bestimmen die Klassen der Meßinstrumente und Meßverfahren die Maßeinheiten und machen daher die benannten Größen erst konkret, geben ihnen einen Realitätsbezug:

“Insofern im Maß Qualität und Quantität nur in unmittelbarer Einheit sind, so tritt ihr Unterschied auf eine ebenso unmittelbare Weise an ihnen hervor. Das spezifische Quantum ist insofern teils bloßes Quantum, und das Dasein ist einer Vermehrung und Verminderung fähig, ohne daß das Maß, welches insofern eine Regel ist, dadurch aufgehoben wird, teils aber ist die Veränderung des Quantums auch eine Veränderung der Qualität” (Enz § 108).

Das spezifische Quantum oder Meßergebnis ist ein Paar von zwei Gliedern. Das erste Glied, der Exponent, ist reines, abstraktes, Quantum, also Proportion oder Zahl, die ihrerseits bestimmt ist durch die Klasse aller möglichen reproduzierbaren Repräsentanten dieses Quantums. Das zweite Glied ist spezifiziertes Quantum, benannter Grad, Meßschritt oder Einheit bzw. Einheitsmaß. Die gesamte Maßzahl ist bestimmt ist durch das Einheitsmaß und die Messung, in welcher der Exponent der Messung als Operation, die Zahl bestimmt wird.

Das Maß, nicht als einzelnes, möglicherweise ‚falsches’, Meßergebnis, sondern als generisches, wiederholbares, richtiges, Ergebnis ist wesentlich durch das generische Verfahren bestimmt, ist insofern selbst eine Regel. Das Verfahren ist die richtige Gebrauchsweise von richtigen Meßinstrumenten im richtigen Fall des sinnvoll Meßbaren. Maß der Richtigkeit ist der Zweck und seine Erfüllbarkeit: Es geht darum, Äquivalenzklassen von Messungen zu erzeugen, Reproduzierbarkeiten, die allein situationsinvariante Informationsübertragungen durch quantitative Rede und dadurch eine gemeinsame Erfahrung, ein quantitativ artikuliertes Erfahrungswissen ermöglichen. Dies ist immer auch eine Erfahrung der Möglichkeiten gemeinsamen Handelns. Daher kann der reine, subjekt- und wahrnehmungszentrierte Empirismus der Hume-Nachfolge die Praxis des Messens überhaupt nicht zureichend begreifen, aber auch der transzendentallogische Empirismus oder Kritizismus Kants nicht, der auf die Handlung des Messens und Zählens und die Konstitution der Maßzahlen in einer humanen Praxis gar nicht so reflektiert, wie dies nötig wäre, um zur Einsicht in das von Hegel hier vehement verteidigte Primat der Kulturpraxis der mathematisierten Wissenschaft und Technik vor der je ausgemessenen Natur zu kommen.

Dies heißt, daß Messungen immer auch ein normatives Element enthalten, im Sinn der Regelung und Ermöglichung koordinierbaren und als richtig kontrollierbaren gemeinsamen Handelns. Die gemessenen Uhrenzeiten und Längen sollten z. B. im Rahmen praktisch zulässiger, ‚harmloser’, Schwankungen und unter Berücksichtigung von ggf. notwendigen Koordinatentransformationen übereinstimmen.

4.2 Das Maß von Zeit, Raum und Masse

Im Kapitel zur “absoluten Mechanik” (Enz. § 269 ff.) stellt Hegel die Frage, was wir denn den Zeitzahlen t realiter entsprechen lassen wollen. Schon in den Jenaer Systementwürfen (GW 7, 209) erklärt er, daß zunächst die Zeit als Quantum und damit in Bezug auf ein Einheitsmaß völlig unbestimmt sei. Denn wir wissen zunächst überhaupt nicht, welche Wahl von Chronometern zu einer ‚guten’ Messung von Bewegungen führen wird, sowenig wie man vor Kopernikus und Kepler wußte, welche Wahl des Koordinatensystems zu einer guten Darstellung der Planetenbahnen führt. Das einzige, was wir immanent kontrollieren können, ist die Gleichheit der Gangverhältnisse unserer Uhren, die für bestimmte Datierungszwecke zunächst ganz gute Zeitangaben liefern. Insofern diese Klasse von uns prima facie als willkürlich gewählt scheint, bleibt die Frage nach dem richtigen ‚absoluten’ Maß der Zeit offen. “Die Zeit” ist für Hegel wie für Aristoteles nichts weiter als ein Titelwort für die Formen eines möglichen Maßes von Bewegungen.

Normalerweise, so sagt Hegel in Enz. § 267, gebrauchen wir die Zeitzahlen t als Nenner oder als Argument, die Raumstrecken als Zähler oder Wert, wenn wir Bewegungen in der Form s = f(t) (mit monotonem f) und Beschleunigungen in der Form s:t = f(t) beschreiben. Er gibt dann aber zu bedenken:

“Wenn Geschwindigkeit überhaupt nur ein Verhältnis von Raum und Zeit einer Bewegung ist [besser: "wäre"], so ist [wäre] es gleichgültig, welches von beiden Momenten als die Anzahl oder als die Einheit betrachtet werden soll.”

Es ist nur eine scheinbar dumme Frage, warum wir nicht die Zeiten als Funktionen der Wege darstellen. Die Frage im Hintergrund ist, wie die Zeitzahlen, die in den Bewegungsformeln der Physiker gebraucht werden, zu deuten sind.

Der Raum, sagt Hegel nun, sei äußerliches, reales Ganzes überhaupt, somit (meßbare) Anzahl (benannte größe). Die Zeit hingegen, ähnlich wie das Volumen im Verhältnis zum spezifischen Gewicht, sei ‚das Ideelle’, d.h. das von uns gesetzte Maß der Bewegung. Zunächst ist, wie gesagt, dieses Maß der Zeit durch irgendwelche Maschinen gegeben, Uhren, die Pendelschwingungen zählen, oder andere ‚Taktgeber’, die man künstlich, mechanisch in Gang hält. Allerdings, und das sollte nie vergessen werden, sind unsere Chronometer schon in gewisser Weise angepaßt an kosmische Zeiten: Sie teilen Jahr und Tag auf reproduzierbare, zyklische, Weise in gleiche Teile, wobei freilich die Gleichheit der Teile wesentlich durch die Wahl der Maschine bestimmt ist. Will man dieser noch ‚unfreien’, durch konventionelle Setzungen bestimmten, Zeit(messung) das Aussehen eines kontinuierlichen Größenbereichs geben, dann kann man entweder irgendwelche Taktverfeinerungen erzeugen. Oder man kann, wie wir im folgenden im Interesse einer knappen und doch das Wesentliche enthaltenden Darstellung, zyklische (Zeiger)Bewegungen betrachten und die durchlaufenen Längen irgendwie in Teile, etwa in geometrisch gleiche Teile, geteilt denken. In ‚unserer’ Klasse K von Chronometern mit Zeigern haben wir schon dafür gesorgt, daß beliebige Exemplare E, E* in folgendem Sinn mehr oder minder genau gleiche Gangverhältnisse erzeugen: Entspricht eine Zeitvariable t denjenigen Längen, welche produziert werden von der Maschine E ab einem beliebig gewählten Nullpunkt 0, eine Zeitvariable t* dagegen den Längen, die produziert werden von der Maschine E* gemessen ab einem beliebigen Zeitpunkt t0 auf E, so soll gelten: Es gibt eine konstante Proportion (reelle Zahl) a so daß t = at+t0 ist. Alle Bewegungen mit dieser Eigenschaft wollen wir “unfreie mechanische Bewegungen" oder "Uhrenbewegungen” nennen: Sie bilden die Klasse der gleichförmigen oder unbeschleunigten Bewegungen (wobei wir manchmal auch von Richtungsänderungen absehen). Die obige Formel oder die Formel t = (1/a).t-t0/a sind dann gewissermaßen Transformationsformeln für Zeitmaßzahlen. Wir wollen nun zeigen, daß diese Definition, die in ihrer Form, nicht im Detail, auf bisher leider zu wenig ernst, weil mit zu viel Polemik, diskutierten Überlegungen Peter Janichs zur Chronometrie zurückgeht, in der Tat Hegels Ausführungen verständlich macht.

Zunächst hat Hegel Recht, daß unmittelbar in der Natur das, was ich Uhrenbewegungen nenne, (zumindest zunächst) überhaupt nicht vorkommt. Derartige Bewegungen sind alle Kulturprodukte. Hegel betrachtet sie als mechanische Bewegungen und unterscheidet sie von freien, d. h. von menschlichen Zurichtungen (wie einer Fallrinne) ganz unabhängigen, Bewegungen. Eine (halb)freie Bewegung ist (wegen der Abhängigkeit von Reibungswiderständen) der freie Fall eines Körpers auf die Erde, eine ganz freie die Bewegung eines Himmelskörpers. Halbfreie Bewegungen nennt Hegel “bedingt frei,” auch weil man die Anfangsbedingungen vielfach künstlich herstellen muss, im Unterschied zur “absolut freien” Bewegung eines Planeten in einer Umlaufbahn.

Aufgrund der empirischen Tatsache, daß in Bezug auf unsere Uhren der ‚freie’ Fall eines Körpers auf der Erde das Fallgesetz s(t) = ct2 für eine Konstante c mehr oder minder gut erfüllt, wird ct2 zu einem natürlichen Beschleunigungsimpuls, was zugleich die Zeitmessung, durch die wir üblicherweise der Variablen t Zahlwerte zuordnen, nicht mehr ganz so konventionell erscheinen läßt. Die Situationsinvarianz des Fallgesetzes legt sogar den Gedanken nahe, die ‚richtige’ Erdzeitmessung als Quadratwurzel aus s/c zu definieren. Der empirische Inhalt einer derartigen Definition besteht gerade darin, daß das Verhältnis zwischen unserer alten Zeitmessung und der Messung der Länge des Falls quadratisch ist. In Enz. § 270 sagt Hegel dementsprechend:

“Als Wurzel ist die Zeit eine bloß empirische größe.”

Als Beleg für unsere Interpretation, die freilich, wie immer, auf Grund der Artikulationsprobleme Hegels umstritten bleiben wird, betrachte man auch Enz. § 267:

“Das Gesetz des Falles ist gegen die abstrakte gleichförmige Geschwindigkeit des toten, von außen bestimmten Mechanismus [einerUhr] ein freies Naturgesetz, d.h. das eine Seite in ihm hat, die sich aus dem Begriffe des Körpers bestimmt.”

Hegels Gebrauch des Wortes “Begriff” ist dabei nicht so zu verstehen, als seien Begriffe rein terminologisch bestimmbar oder bestimmt. Hegel wehrt sich an vielen Stellen der Logik, aber vergeblich, gegen diese Interpretation. Ihm geht es hier um folgendes: Wollen wir begreifen, was Körper sind, so müssen wir das Gesamt unserer Rede über Körper, unter Einschluß ihrer wesentlichen Eigenschaften kennen. Zu diesen gehört unter anderem die Unterscheidung zwischen Körpern und körperleerem Raum, konkreter: der Begriff der Beweglichkeit der Körper gegeneinander. Diese Repulsion oder Unterscheidung der Körper voneinander sollte aber nicht, wie Kant dies tut, als unmittelbare Kraft gedeutet werden, vielmehr als Teil unserer begrifflichen Gliederung der Erfahrungswelt. Mehr noch, der Realbegriff, die konkrete Identität, eines Körpers setzt einen gewissen Zusammenhalt (Attraktion) voraus, zugleich ein Wissen über andere natürliche Bewegungseigenschaften, wie Z. B.die, daß er schwer ist, auf die Erde fällt, wenn er hochgehoben wird. Die Schwere der Körper, und das heißt genauer: ihre jeweilige Massenzahl (die zunächst relativ zur Erde als Gewicht gemessen wird), gehört nach Hegel zum Begriff des Körpers, und zwar als Moment ihres mechanischen und freien Bewegungsverhaltens. Hierin widerspricht Hegel Kant, so wie Leibniz dem Versuch des Descartes widersprochen hatte, ohne den Begriff der Masse, rein kinematisch, die Körperbewegungen erklären zu wollen. Auf das schwierige Problem einer vom irdischen Gewicht unabhängigen Definition der Massenzahlen eines Körperdings gehe ich hier nicht näher ein.

Für Hegel jedenfalls konkretisiert und präzisiert das Fallgesetz den Realbegriff des Körpers. Es ist nach Hegel einfach ein Unding, mit Descartes oder Kant Körper nur durch ihre haptische Undurchdringlichkeit als res extensae definieren zu wollen. Wäre dies die ganze Definition des Körperdings, so wäre es ganz und gar erstaunlich, daß sich Körper überhaupt in Raum und Zeit bewegen, und das auch noch auf eine ganz bestimmte, partiell vorhersagbare, Weise.

“Kant hat bekanntlich die Materie aus der Repulsiv- und Attraktionskraft konstruiert.. Eine solche Existenz wie die sinnliche Materie ist zwar nicht ein Gegenstand der Logik, ebensowenig als der Raum und Raumbestimmungen. Aber.. [es] liegen die hier betrachteten reinen formalen Bestimmungen vom Eins und Vielen .., die ich Repulsion und Attraktion, weil diese Namen am nächsten liegen, genannt habe, zugrunde” (WdL I, 170 f.; GW 21, 167).

.i.Kants Rede von einer Attraktionskraft ist nicht zu verwechseln mit der .i.Newtonschen Gravitation (Zentripetalkraft; vgl. WdL I, 176; GW 21, 172), die angebliche Repulsionskraft nicht mit der .i.Newtonschen Fliehkraft (Zentrifugalkraft), insbesondere da letztere ja tangential zur Bewegungslinie verläuft. Es folgt eine Kritik an Kants transzendentalem Idealismus, der gelesen wird als eine Variante des subjektiven Konstrukivismus, eines solipsistischen Aufbaus der Welt auf empirischer Basis:

“Kants Verfahren .. verdient .. diesen Namen .. [einerKonstruktion] nicht, ist nämlich im Grunde analytisch. Er setzt die Vorstellung der Materie voraus und fragt nun, welche Kräfte dazu gehören, um ihre vorausgesetzten Bestimmungen zu erhalten” (WdL I, 171).

Hegel deutet Kants Verfahren oder wenigstens seine Selbstkommentare und damit eine bis heute übliche Lesart präsuppositionsanalytisch um. Es geht also um die Präsuppositionen, die in unsere Rede über den ganzen Bereich der Körperwelt als besondere Formen der Differenzierung und Erklärung der Erfahrungswelt eingearbeitet sind. außerdem kritisiert Hegel, daß Kant die Masse nicht als Moment des Bewegungsverhaltens der Körper deutet, denn dieser

“denkt nicht daran, sie [die Bewegung] als etwas Innerliches .. in der Materie zu begreifen” (WdL I, 171).

Diese werde statt dessen von vornherein als

“bewegungslos und träge angenommen.”

Bewegung gebe es bei Kant wie bei Newton nur als Folge nach einem mechanischen “Druck und Stoß.” Dieser Standpunkt hat in der Tat nur

“die gemeine Mechanik, nicht die immanente und freie Bewegung vor sich.”

Der Unterschied ist der zwischen einer Bewegung durch unser Eingreifen (wie beim stoßen einer Billardkugel oder in einem Kanonenschuß) und den Körperbewegungen, die kein Eingreifen durch uns benötigen, insofern ‚absolut’ und ‚frei’ sind. Hegel fährt fort: Der Zusammenhang zwischen dem Begriff des Körpers und dem Fallgesetz

“ist aber einfach darin liegend anzusehen, daß, weil hier der Begriff zum Bestimmen kommt, die Begriffsbestimmungen der Zeit und des Raums gegeneinander frei werden, d.i. ihre Größenbestimmungen sich nach denselben verhalten” (Enz. § 267).

Es ist dies nur ein etwas geschraubte Formulierung dafür, daß sich unter anderem in der Formel s = ct2 zeigt, inwiefern unser Zeitmaß (bis auf die unwesentlichen Fragen der Normierung der Einheiten) nicht rein konventionell ist, sondern an das, was in der freien Körperwelt zu geschehen pflegt, schon angepaßt ist. Dabei sollten wir dennoch darüber überrascht sein, daß unsere Zeitmessung zu einem solchen Ergebnis führt, so daß die Natur diesen Gesetzen gehorcht.

Wie konnte es geschehen, daß unsere Zeitmessung schon so eingerichtet war, daß das einfache Fallgesetz s = ct2 mit (relativ) konstantem Faktor c eine gute Approximation für ein invariant beobachtbares Zeit-Längen-Verhältnis liefert? Hegels Antwort ist: Es ist eine kulturhistorische Tatsache. Das ‚Wunder’ löst sich auf einer höheren Ebene des Wissens auf, und zwar gerade vor dem Hintergrund der Newtonschen Einsicht in den ‚mathematischen’ Zusammenhang des Fallgesetzes Galileis mit den von Kepler beschriebenen Planetenbewegungen.

Hegel fragt sich dann noch, warum die Zeit in der Formel im Quadrat auftritt, und erklärt dazu:

“Der Raum .. ist das Auseinandersein .. der Zeit; denn die Geschwindigkeit dieser freien Bewegung ist dies, daß Zeit und Raum nicht äußerlich, nicht zufällig gegeneinander sind, sondern beider Eine Bestimmung ist,” und: “Die als der Form der Zeit, der Einheit, entgegengesetzte Form des Auseinander des Raums .. ist das Quadrat.

Man betrachte dazu die Relativbewegungen von zwei Körpern, auf denen Stellen B und B* so markiert sind, daß von einem gemeinsamen Anfang her Längen b und b* entstehen. Dabei vertrete b=t den Zeigerlauf einer Uhr, mit dem der Streckenverlauf von b=s verglichen, gemessen, wird, und zwar durch simultanen Stellenvergleich. Man denke sich nun die Umläufe der Uhr auf eine Zeitzahlgerade, die Abszisse, projiziert, während die je gleichzeitig durch B durchlaufenen Streckenlängen die Ordinatenwerte der die Bewegung B* darstellenden Funktion s=f(t) bestimmen. Man erhält das bekannte Bild einer Funktion im ‚Quadrat’, wie sich Hegel hier etwas unglücklich ausdrückt, da hier noch nicht der konkrete Fall des Fallgesetzes gemeint ist, sondern das quadratische Koordinatensystem. Hegel sagt dann, die abhängige größe s=b* vermehre sich

“aber nach keiner anderen als ihrer eigenen Bestimmtheit.”

Gemeint ist, daß sich die Geschwindigkeit s/t mit der Zeit t vergrößert, so daß c=(s/t)/t= s/t2 die Grundformel einer konstanten Beschleunigung in Abhängigkeit von der Zeit t ist (Enz. § 267).

Für uns reicht es, daß Hegel in der Wissenschaft der Logik das Grundproblem der Maßbestimmungen in der Physik und dabei das tiefste Problem, das der Bestimmung der Maßeinheiten für die Zeitmessung, klar und deutlich thematisiert. Es geht um die Suche nach einem ‚absoluten’, von möglichen Zufällen in der historischen Entwicklung der Uhrmacherkunst losgelösten, Maß der Zeit, und zwar auf der Basis der Idealisierung erfahrener Naturkonstanten:

“In Rücksicht auf die absoluten Maßverhältnisse darf wohl daran erinnert werden, daß die Mathematik der Natur, wenn sie des Namens einer Wissenschaft würdig sein will, wesentlich die Wissenschaft der Maße sein müsse, - eine Wissenschaft, für die empirisch wohl viel, .. philosophisch [d.h. im Bereich der logischen Wissenschaftsanalyse] noch wenig getan ist.”

Es sei, so fährt Hegel fort, ein unsterbliches Verdienst von Galilei und Kepler, gezeigt zu haben, daß den apriorischen Gesetzen, d.h. den funktionalen Darstellungen, die sie gefunden haben,

“der Umfang der Einzelheiten der Wahrnehmung entspricht” [sic!].

Es müsse aber noch ein

“höheres Beweisen dieser Gesetze gefordert werden, nämlich .. daß ihre Quantitätsbestimmungen aus den Qualitäten .. (wie Zeit und Raum) erkannt werde” (WdL I, 354; GW 21, 340).

5. Metaphysik des (Neo-)Pythagoräismus: die wirkliche Welt als mathematische Struktur

Einen wichtigen Hinweis dafür, daß Hegels Analyse der Quantität und insbesondere seine Rede vom ‚Absoluten’ in metaphysikkritischer Absicht zu lesen ist, finden wir in der folgenden Bemerkung:

“Das Absolute ist reine Quantität, - dieser Standpunkt fällt im allgemeinen damit zusammen, daß dem Absoluten die Bestimmung der Materie gegeben wird, an welcher die Form .. eine gleichgültige Bestimmung sei ..[und] daß .. aller Unterschied nur quantitativ sei. — Sonst können der reine Raum, die Zeit usf. als Beispiele der Quantität genommen werden, insofern das Reale als gleichgültige Raum- und Zeiterfüllung aufgefaßt werden soll” (Enz. § 99).

Als reine Quantität von irgendwelchen nicht näher erkennbaren Urelementen und funktionalen Veränderungen wäre das All oder das Absolute oder die wirkliche Welt am Ende isomorph zu einer abstrakten mathematischen Mengenstruktur, gerade so wie sich dies Theoretiker vorstellen, die, wie etwa D. Lewis, solche Mengenstrukturen “mögliche” und “wirkliche” Mengen zu nennen belieben. Wörtlich genommen, ist das offenbarer Unsinn. Immerhin wird klar, daß die Frage, was wir denn meinen, wenn wir zwischen Wirklichkeit und bloßer Möglichkeit einerseits, Wirklichkeit und Erscheinung oder Schein andererseits unterscheiden, eine wichtige begriffsanalytische Frage ist, der sich Hegel in der Wesenslogik zuwendet.

Auch die schwächeren Thesen, daß der Erscheinungswelt eine wirkliche, mathematisch beschreibbare, Struktur zugrunde liege oder daß die reale Welt wenigstens idealiter und näherungsweise in der Form reiner struktur- oder mengentheoretischer Rede darstellbar und erklärbar sei oder sein müsse, wären erst noch zu begründen. Sie lassen sich aber im Gegenteil leicht widerlegen, wenn man nur hinreichend berücksichtigt, daß die Elemente einer konkreten Menge und ihre Relationen nicht anders als über qualitative Differenzierungen bestimmt werden können, also auf der Basis der Kategorie des Daseins und der dort definierten Qualitäten.

Um die These zu retten, daß aller Unterschied quantitativ sei, versucht man traditionell, die Quantität, die das All ausmachen soll, zur Raum-Zeit-Verteilung einer (festen?) Anzahl von Materiepartikeln zu machen. Nun kann aber, wie wir schon von Kant wissen, der Raum nicht ‚an und für sich’ der bloß abstrakte, mathematische, dreidimensionale (reelle, cartesische) Zahlenraum R3 sein, die Zeit nicht die Zahlmenge R, die Raum-Zeit nicht der vierdimensionale Raum R4 und im übrigen auch nicht irgend eine höherdimensionale Riemannsche Fläche oder Mannigfaltigkeit. Dies gilt auch dann, wenn man diese reinen Mengenstrukturen “Räume” nennt und anreichert mit Darstellungen von ‚Partikelbahnen’, also (zumindest) zusammenhängenden ‚Wegen’ im Sinn der Analysis (das sind Funktionen, von denen man im wesentlichen aus rechentechnischen Gründen noch gewisse Differenzierbarkeiten fordert). Wir müssen vielmehr zwischen dem mathematischen Modell und den realen Räumen, Zeiten, Dingen unterscheiden. Der Mangel dieser Unterscheidung ist das Charakteristikum pythagoräistischer Metaphysik. Hegel erkennt, daß der ‚wissenschaftliche Empirismus’ oder Physikalismus pythagoräistisch in diesem Sinn ist.

Das hier angesprochene Problem der vollen Bedeutung der Rede über Raum und Zeit (an und für sich, und d. h.: nicht bloß der Rede über mathematische, rein theorieinterne, Formen an sich), betrifft ersichtlich nicht nur das newtonianische oder Laplacesche, sondern auch noch das zeitgenössische Weltbild mit seinen relativistischen Raum-Zeiten. Laplace hatte, grob gesagt, folgendes Bild der Welt propagiert: Das Reich der Materie ist ein schon ausdifferenziertes System von sub- und supra-atomaren Partikeln in Raum und Zeit. In ihm soll ‚alles’ erklärt werden können durch quantitative Veränderungen, kinematisch beschreibbare und dynamisch-kausal erklärbare Bewegungen dieser Materie. Mathematisch gesprochen heißt dies: Man faßt die Partikelbahnen als prädeterminierte Funktionen, also als ein für allemal fixiert auf. Eine Rechtfertigung für die Möglichkeit dieser Auffassung oder Annahme hat man nie gegeben, sondern an die Stelle von Gründen einen dogmatischen Glauben gesetzt, den Glauben eines physikalistischen oder materialistischen ‚Naturalismus’. Hegel erkennt diesen Glauben als neue Variante pythagoräistischer Metaphysik, freilich ohne dies so zu sagen.

Kant interpretiert das mechanistische Welt-Bild als Modell unserer Darstellung der Körperwelt und aller Erklärungen physischer Ereignisse und unterschiebt ihm damit wenigstens eine funktionalistische und damit, wie Hegel klar und deutlich sieht, eine auf menschliche Zwecksetzungen ausgerichtete Begründung. Insofern stellen Kants Analysen einen wichtigen Fortschritt dar. Kant hat es dann aber versäumt, die Grenzen der Brauchbarkeit dieses Darstellungs- und Erklärungsrahmens angemessen zu bedenken, so daß seine ‚transzendentale Begründung’ z. B. des Prinzips der kausalen Erklärbarkeit von Körperbewegungen systematisch defizitär bleibt.

Es gibt eine empiristische Alternative zum Laplaceschen Weltbild – so lese ich das Wörtchen “sonst” nach dem Gedankenstrich im obigen Zitat. Diese beruht darauf, daß sich eine Darstellungsform der Erfahrung denken läßt, in der bezogen auf ein unterstelltes festes Koordinatensystem immer nur anzugeben ist, welche (Sinnes-)Qualitäten in ihren haptischen, optischen, akustischen oder anderen Differenzierungen, also etwa als Härte, Farbigkeit usf. an dieser oder jener etwa durch Maßzahlen benannten Raum-Zeit-Stelle auftreten. Es ist dies ein ‚humeanisches’ Bild, das ähnlich später auch im logischen Empirismus, besonders in Wittgensteins Tractatus und dann auch bei Carnap skizziert und diskutiert wird. Obwohl das Bild, anders als das Laplacesche Welt-Bild, kein Freiheitsproblem entstehen läßt, wie schon Hume bemerkt, ist es in einem tiefen Sinn gedankenlos. Denn erstens sind die Zeit- und Raumangaben als reine Zahlen von jedem konkreten Bezug zu einer realen, mit der konkreten Erfahrung verbundenen, Zeit- und Raummessung losgelöst und haben damit überhaupt nichts mehr mit dem vollen Begriff ‚Zeit’ und ‚Raum’ zu tun. Letzterer kommt nicht ohne Kenntnis qualitativer Unterscheidungen der Körper (Dinge) und ihrer Relativbewegungen aus. Zweitens sind Sinnesempfindungen als solche gar nicht definiert oder bestimmt. Die Unterstellung von individuellen Sinnesempfindungen oder Sinnesdaten basiert auf einem schon von Hegel in der Phänomenologie des Geistes im Abschnitt “Die sinnliche Gewißheit; oder das Diese und das Meinen” und dann wieder von Quine und Sellars diagnostizierten Mythos des unmittelbar Gegebenen.