Textauszug aus: Klaus J. Schmidt: G. W. F: Hegel: Wissenschaft der Logik - Die Lehre vom Wesen. - Ein einführender Kommentar; UTB, 1997

In jüngster Zeit hat G.M. Wölfle die Frage nach der Einheit der Wesenslogik gestellt und in vernichtender Weise beantwortet.

Nach seiner Ansicht kann man die Wesenslogik “nicht als kohärentes System” deuten.

Ferner beinhalte ihr 1. Kapitel nur “Übergangsstufen,” die sich ersatzlos streichen ließen.

Es wird in der Folge zu zeigen sein, daß mit einer derartigen Charakterisierung des ersten Kapitels die Grundlage der Wesenslogik zerstört wird.

Wenn man die “logische Struktur des Wesens” erst im zweiten Kapitel entdeckt, dann muss man am eigentlichen Ansatz der Wesenslogik vorbeigehen.

Wölfles These über ihr 1. Kapitel ist keineswegs neu.

Sie wurde bereits von McTaggart, wenn auch nicht mit den oben genannten Konsequenzen, aufgestellt.

Gegen McTaggart hat überzeugend D. Henrich Stellung bezogen, indem er in einer detaillierten Arbeit nachweist, daß ein direkter Schritt vom Ende der Seinslogik zu den Reflexionsbestimmungen, “unmöglich gewesen wäre.”

Theunissen, der ebenfalls McTaggarts Ansatz diskutiert, bezeichnet das erste Kapitel der Wesenslogik zu Recht als deren “Grundlegungskapitel.”

Henrich verbindet seine These mit der Behauptung, daß das Unterkapitel “Das Wesentliche und das Unwesentliche” sowie die erste Hälfte des Unterkapitels “Der Schein” hinter den am Ende der Seinslogik erreichten Ergebnissen zurückbleiben.

Gegen diesen Zusatz sind allerdings Bedenken anzumelden, da Hegel auf der Basis der am Ende der Seinslogik gegebenen Definition des Wesens bereits mit dem Unterkapitel “Das Wesentliche und das Unwesentliche” die Arbeit aufnimmt, den “Begriff des Wesens” zu realisieren oder das oben vorgestellte Programm der Wesenslogik einzulösen.

Der Beitrag, den das besagte Unterkapitel zur Realisierung des Begriffs leistet, besteht in der Einführung der für die Wesenslogik fundamentalen Bestimmung des Scheins.

Um die fundamentale Rolle des Scheins in der Wesenslogik zu erkennen, hat man lediglich die in der Begriffslogik oder die in der Enzyklopädie vorliegenden einschlägigen Stellen, die die Dialektik der Seinslogik als Übergehen in Anderes, die Dialektik der Wesenslogik als Scheinen in Anderes und die Dialektik der Begriffslogik als Entwicklung charakterisieren, ernstzunehmen (Enz §240).

Hält man sich an die Wesenslogik selbst, so genügt ein flüchtiger Blick auf ihr letztes Kapitel, das “absolute Verhältnis.”

Hegel eröffnet es mit einem Resümee zur gesamten Wesenslogik, das er an Hand der Bestimmung des Scheins gibt.

Dem Schein fällt im sich negierenden Bestimmen des Wesens insofern eine Schlüsselposition zu, als er mit dem Unterschied des Wesens identifiziert wird (W190,19-20).

Aufbauend auf diesem Ansatz begreift Hegel das Unterscheiden des Wesens von sich als dessen “Scheinen.”

Der Weg vom anfänglichen Wesen, dem Wesen als solchem, mündet in das absolute Verhältnis, in welchem das Wesen als reines Scheinen - vergleichbar dem Licht - und der “Schein” als der “gesetzte,” d. h. als der auf der Basis des Anfangskonzepts entfaltete “Schein” begriffen wird (W190,20-30).

Hegel gewinnt dieses Anfangskonzept des Scheins im Unterkapitel “Das Wesentliche und das Unwesentliche,” indem er erneut nach dem Verhältnis von Sein und Wesen fragt.

Leitender Aspekt der Fragestellung ist dabei eine Folgerung aus der Genese des Wesens (N274,30-32), mit der das besagte Unterkapitel eröffnet wird.

Die Folgerung lautet: “Das Wesen ist das aufgehobene Sein.”

Weil das Wesen das aufgehobene Sein ausmacht, weil ferner das “Aufheben aufbewahrt,” bleibt die “Unmittelbarkeit,” aus der das Wesen “geworden ist,” “erhalten.”

Da dem Wesen auf diese Weise selbst das Prädikat der Unmittelbarkeit zukommt, stehen zwei unmittelbar Seiende “in gleichem Werte” gegenüber.

Dieser Ansatz treibt in ein Dilemma.

Als Aufgehobenes ist das Sein das “Unwesentliche,” das Wesen, als Aufhebendes, das “Wesentliche.”

Unter dem Aspekt des Aufhebens können daher Sein und Wesen nicht als gleichwertig, vielmehr müssen sie als “Andere” angesehen werden.

Aus der Perspektive der Wesenslogik ist es jedoch unangemessen, Sein und Wesen als Andere zu interpretieren, da auf diese Weise das Wesen daseinslogisch gedeutet wird.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei betont, daß Hegel das Andere, selbst wenn es rein daseinslogisch gesehen wird, nicht aus der Wesenslogik eliminiert.

Der Begriff des Anderen stellt für ihn lediglich keine ausreichende Basis dar, um das Verhältnis von Sein und Wesen sachgerecht fortzusetzen.

Hegel läßt diesen Begriff weiter zu, wenn auch in der Absicht, über ihn hinauszugehen.

Das Wesen ist “nicht nur als ein Anderes bestimmt,” es ist differenzierter als die “absolute Negativität des Seins” zu fassen, die sich von den Spielarten der unmittelbaren Negation der Seinslogik grundlegend unterscheidet.

Das obige Dilemma entsteht, wenn man das “Wesen nur.. als aufgehobenes Sein” betrachtet (W9,2-3), wenn man also das Sein negierend bearbeitet, es ansonsten jedoch bestehen läßt.

Formallogisch gesehen, stellt dann das aufgehobene Sein einen negierten Ausdruck dar.

In dieser Kombination bildet das Sein die Grundlage, auf der die Negation operiert.

Wie in der Folge zu zeigen sein wird, stellt sich diese Struktur gerade als typisch für die Seinslogik heraus, von der die Negativität des Wesens strikt unterschieden ist.

Weil das Sein seine Funktion als feste Grundlage eingebüßt hat, sieht Hegel sich gezwungen, es aufs Neue zu bewerten.

Das Sein ist nicht nur das neutrale Andere des Wesens, es ist “nicht bloß ein unwesentliches Dasein, sondern das an und für sich nichtige Unmittelbare; es ist nur ein Unwesen, der Schein” (W9,12-15).

Da der Versuch, das Verhältnis von Sein und Wesen mit Hilfe der Unterscheidung wesentlich und unwesentlich zu beleuchten, die Thematik des Wesens unterwandert, indem er das Wesen auf die Stufe des Daseins zurückfuhrt, ergibt sich für Hegel die Notwendigkeit, die Bestimmung des Scheins in die Wissenschaft der Logik einzuführen.

Dadurch unterstreicht er noch einmal das Erfordernis eines gegenüber der Seinslogik neuartigen Ansatzes.

Zu diesem Ansatz gelangt Hegel im Laufe seiner philosophischen Entwicklung relativ spät.

Zwar spricht er schon in der Jenenser Logik und Metaphysik vom Schein, doch tritt der Schein nicht als objektiver Schein des sich selbst bewegenden Wesens auf.

Vielmehr wird er innerhalb der Reflexionsbestimmungen thematisch, die ihrerseits dem Erkennen zugeordnet sind.

Damit liegt in der Jenenser Logik eine Situation vor, die Hegel zu Beginn der Wesenslogik abweist (W3,20ff).

In der Phänomenologie des Geistes wird der Schein bei dem Versuch, das Bewußtsein aus der “Täuschung des Wahrnehmens” herauszuführen, an Hand des Gegensatzes von wesentlich und unwesentlich bzw. Wesen und “Unwesen” thematisch (Phän 102/3).

Obwohl Hegel dort “Schein” im Sinne der Wesenslogik als “Sein” begreift, “das unmittelbar an ihm selbst ein Nichtsein ist” (Phän 110), geht er noch nicht vom “Unwesen” zum Schein über, wie das in der Wesenslogik der Fall ist.

Vergleicht man das in der Einleitung der Wesenslogik vorgestellte Programm - in dem das Wesen als Scheinen, Erscheinen und Offenbaren gefaßt wird (W6,6-7) - mit dem erwähnten Wissen der Religion und der Philosophie über den Zusammenhang von Sein und Wesen in der Phänomenologie des Geistes, so bemerkt man, daß Hegel in der letzteren das Wesen als “erschienen” sowie als “offenbar” ansieht, ohne dabei jedoch auf das Phänomen des Scheinens zu verweisen (Phän 530).

Obwohl er dort also Schein im Sinne der Wesenslogik definiert, konstruiert er noch keinen Zusammenhang zwischen Scheinen einerseits und Erscheinen sowie Offenbaren andererseits.