“Ich weiß, daß ich nichts weiß” ist einer der bekanntesten Sätze der Philosophiegeschichte.
Wenn man aber, wie oft geschehen, diesen (schon in sich widersprüchlichen) Satz
zum allgemeinen Prinzip erweitert, so daß alle Erkenntnis für unmöglich erklärt wird,
hat man die Ironie der Sokratischen Methode übersehen, und ihn so völlig mißverstanden.
Daß Sokrates sich unwissend stellte diente dem Anregen zum Nachdenken, um das Gute zu erkennen
(wobei er freilich auch wußte, daß er es noch nicht zur Wissenschaft gebracht hatte).

Hegeltext aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie:

DIE SOKRATISCHE METHODE

In diese Konversation fällt Sokrates’ Philosophieren
und die dem Namen nach bekannte Sokratische Methode überhaupt,
die nach ihrer Natur dialektischer Weise sein musste.

Sokrates’ Manier ist nichts Gemachtes, dagegen die Dialoge der Neueren,
eben weil kein innerer Grund diese Form rechtfertigte,
langweilig und schleppend werden mussten.

Das Prinzip seines Philosophierens
fällt vielmehr mit der Methode selbst als solcher zusammen;
es kann insofern auch nicht Methode genannt werden, sondern es ist eine Weise,
die mit dem Eigentümlichen des Sokrates ganz identisch ist.

Der Hauptinhalt ist, das Gute zu erkennen als das Absolute,
besonders in Beziehung auf Handlungen.

Diese Seite stellt Sokrates so hoch, daß er die Wissenschaften,
Betrachtung des Allgemeinen in der Natur, dem Geiste usw.
teils selbst auf die Seite setzte, teils andere dazu aufforderte.

So kann man sagen, dem Inhalte nach
hatte seine Philosophie ganz praktische Rücksicht.

Die Sokratische Methode macht aber die Hauptseite aus.

Sokrates’ Konversation (diese Methode) hatte das Eigene,
a) jeden zum Nachdenken über seine Pflichten
bei irgendeiner ((456)) Veranlassung zu bringen,
wie sich dieselbe von selbst ergab oder wie er sie sich machte,
indem er zu Schneider und Schuster in die Werkstatt ging
und sich mit ihnen in einen Diskurs einließ.

Mit Jünglingen und Alten, Schustern, Schmieden, Sophisten, Staatsmännern,
Bürgern aller Art ließ er sich auf diese Weise in ihre Interessen ein,
es seien häusliche Interessen, Erziehung der Kinder,
oder Interessen des Wissens, der Wahrheit usf. gewesen,
nahm einen Zweck auf, wie der Zufall ihn gab, und führte
b) sie von dem bestimmten Falle ab auf das Denken des Allgemeinen,
brachte in jedem eigenes Denken,
die Überzeugung und Bewußtsein dessen hervor, was das bestimmte Rechte sei,
- des Allgemeinen, an und für sich geltenden Wahren, Schönen.

Dies bewerkstelligte er durch die berühmte Sokratische Methode;
von dieser Methode ist zu sprechen vor dem Inhalte.

Diese hat vorzüglich die zwei Seiten an ihr:
a) das Allgemeine aus dem konkreten Fall zu entwickeln °
und den Begriff, der an sich in jedem Bewußtsein ist, zutage zu fördern,
b) das Allgemeine, die gemeinten, festgewordenen,
im Bewußtsein unmittelbar aufgenommenen Bestimmungen
der Vorstellung oder des Gedankens aufzulösen
und durch sich und das Konkrete zu verwirren.

Dies sind nun die allgemeinen Bestimmungen.
a) Näher ist das eine Moment seiner Methode, von dem er gewöhnlich anfing,
dieses, daß, indem ihm darum zu tun ist, im Menschen das Denken zu erwecken,
er Mißtrauen in ihre Voraussetzungen erwecken will,
nachdem der Glaube schon wankend geworden
und die Menschen getrieben waren, das, was ist, in sich selber zu suchen.

Er läßt sich gewöhnliche Vorstellungen gefallen, fängt damit an;
dieses tut er auch, wenn er die Manier der Sophisten zuschanden machen will.

Besonders bei Jünglingen ist ihm dies angelegen;
sie sollen Bedürfnis nach Erkenntnis (in sich selbst zu denken) haben.

Daß er gewöhnliche Vorstellungen annimmt, sie sich geben läßt,
hat die Erscheinung, daß er sich unwissend stellt,
die ((457)) anderen zum Sprechen bringt, - er wisse dies nicht;
und nun fragte er mit dem Scheine der Unbefangenheit,
es sich von den Leuten sagen zu lassen, sie sollen ihn belehren.

Dieses ist dann die Seite der berühmten Sokratischen Ironie.

Sie hat bei ihm die subjektive Gestalt der Dialektik, sie ist Benehmungsweise im Umgang;
die Dialektik ist Gründe der Sache,
die Ironie ist besondere Benehmungsweise von Person zu Person.

Was er damit bewirken wollte, war,
daß sich die anderen äußern, ihre Grundsätze vorbringen sollten.

Und aus jedem bestimmten Satze oder aus der Entwicklung
entwickelte er das Gegenteil dessen, was der Satz aussprach;
d.h. er behauptet es nicht gegen jenen Satz oder Definition,
sondern nimmt diese Bestimmung und zeigt an ihr selbst auf,
wie das Gegenteil von ihr selbst darin liegt.

Oder zuweilen entwickelt er auch das Gegenteil aus einem konkreten Falle.

Aus dem, was die Menschen für wahr halten, läßt er sie selbst Konsequenzen ziehen
und dann erkennen, wie sie darin anderem widersprechen,
was ihnen ebensosehr fester Grundsatz ist.

So lehrte also Sokrates die, mit denen er umging, wissen, daß sie nichts wissen;
ja, was noch mehr ist, er sagte selber, er wisse nichts, dozierte also auch nicht.

Wirklich kann man auch sagen, daß Sokrates nichts [absolutes] wußte;
denn er kam nicht dazu, eine Philosophie zu haben und eine Wissenschaft auszubilden.

Dessen war er sich bewußt;
und es war auch gar nicht sein Zweck, eine Wissenschaft zu haben.

Einerseits scheint diese Ironie etwas Unwahres zu sein,
- Sokrates sagt, er wisse dies nicht, und forscht die Leute aus;
näher aber liegt dies darin,
daß man nicht weiß, was der andere sich dabei vorstellt.

Dies ist zu jeder Zeit das Verhältnis,
- wenn man über Gegenstände verhandelt,
die allgemeines Interesse haben, über diese hin und her spricht -,
daß dann jedes Individuum gewisse letzte Vorstellungen,
letzte Worte, die als allgemein bekannt sind, voraussetzt,
so daß diese Bekanntschaft gegenseitig sei.

Wenn es aber in der Tat zur Einsicht kommen soll,
so sind es gerade diese Voraussetzungen, die untersucht werden müssen. ((458))

In neuerer Zeit wird so über Glauben und Vernunft gestritten,
Glauben und Erkennen sind so Interessen des Geistes, die uns gegenwärtig beschäftigen;
da tut nun jeder, als ob er wohl wüßte, was Vernunft usf. ist,
und es gilt als Ungezogenheit, zu fordern, was Vernunft sei;
das wird als bekannt vorausgesetzt.

Die meisten Streitigkeiten sind über dies Thema.

Ein berühmter Gottesgelehrter hat vor zehn Jahren 90 Thesen über die Vernunft aufgestellt.

Es waren sehr interessante Fragen,
es hat aber kein Resultat gegeben, obgleich viel darüber gestritten ist;
jener versichert da vom Glauben, der andere von der Vernunft [her],
und es bleibt bei diesem Gegensatz.

Sie sind allerdings verschieden voneinander,
aber wodurch allein eine Verständigung möglich ist,
ist gerade die Explikation dessen, was als bekannt vorausgesetzt wird
(es ist nicht bekannt, was Glaube, was Vernunft ist);
erst in Angabe der Bestimmungen kann das Gemeinschaftliche hervortreten,
erst dadurch können solche Fragen und die Bemühungen darüber fruchtbar werden;
sonst kann man jahrelang darüber hin und her streiten und schwatzen,
ohne daß es zu einem Fortschritt kommt.

Die Ironie des Sokrates enthält dies große in sich, daß dadurch darauf geführt wird,
die abstrakten Vorstellungen konkret zu machen, zu entwickeln.

Wenn ich sage: ich weiß, was Vernunft, was Glaube ist,
so sind dies nur ganz abstrakte Vorstellungen;
daß sie nun konkret werden, dazu gehört, daß sie expliziert werden,
daß vorausgesetzt werde, es sei nicht bekannt, was es eigentlich sei.

Diese Explikation solcher Vorstellungen bewirkt nun Sokrates;
und dies ist das Wahrhafte der Sokratischen Ironie.

Der eine spricht vom Glauben, der andere von Vernunft,
man weiß aber nicht, was sie sich darunter vorstellen;
es kommt jedoch allein auf den Begriff an,
diesen zum Bewußtsein zu bringen,
- es ist um die Entwicklung dessen zu tun,
was nur Vorstellung und deshalb etwas Abstraktes ist. ((459))

Es ist auch in neuerer Zeit viel über die Sokratische Ironie gesprochen worden.

Das Einfache in derselben ist nur das, daß er das gelten ließ,
was ihm geantwortet wurde, wie es unmittelbar vorgestellt, angenommen wird.
(Alle Dialektik läßt das gelten, was gelten soll, als ob es gelte,
läßt die innere Zerstörung selbst sich daran entwickeln,
- allgemeine Ironie der Welt.)

Man hat aus dieser Ironie etwas ganz anderes machen wollen,
sie zum allgemeinen Prinzip erweitert;
Friedrich von Schlegel ist es, der diese Gedanken zuerst aufgebracht,
Ast hat es nachgesprochen.

Sie soll die höchste Weise des Verhaltens des Geistes sein
und ist als das Göttlichste aufgestellt worden.

Ast sagt:
“Die regste Liebe zu allem Schönen in der Idee wie im Leben
beseelte seine Gespräche als inneres, unergründliches Leben.”

Dieses Leben soll die Ironie sein!!

“Der Ironie bediente er sich vorzüglich gegen die Sophisten,
um den Dünkel ihres Wissens niederzuschlagen.”

Diese Ironie ist eine Wendung der Fichteschen Philosophie, aus ihr hervorgegangen,
und ist ein wesentlicher Punkt in dem Verständnis der Begriffe der neuesten Zeit.

Sie ist das Fertigsein des subjektiven Bewußtseins mit allen Dingen:
"Ich bin es, der durch mein gebildetes Denken alle Bestimmungen zunichte machen kann, Bestimmungen von Recht, Sittlichkeit, Gut usw.;
und ich weiß, daß, wenn mir etwas als gut erscheint, gilt,
ich mir dies ebenso auch verkehren kann.

Ich weiß mich schlechthin als den Herrn über alle diese Bestimmungen,
kann sie gelten lassen und auch nicht;
alles gilt mir nur wahr, insofern es mir jetzt gefällt."

Die Ironie ist das Spiel mit allem;
dieser Subjektivität ist es mit nichts mehr Ernst,
sie macht Ernst, vernichtet ihn aber wieder
und kann alles in Schein verwandeln.

Alle hohe und göttliche Wahrheit löst sich in Nichtigkeit (Gemeinheit) auf;
aller Ernst ist zugleich nur Scherz.

Zur Ironie gehöre aber schon die griechische Heiterkeit,
wie sie schon in Homers Gedichten weht,
daß Amor der Macht des Zeus, des Mars spottet,
Vulkan hinkend den Göttern Wein serviert
und unauslöschliches Gelächter der unsterblichen Gotter sich erhebt, ((460))
Juno der Aphrodite Backenstreiche gibt.

So findet man Ironie in den Opfern der Alten,
die das Beste selbst verzehrten, im Schmerze, der lächelt,
in der höchsten Fröhlichkeit und Glück, das bis zu Tränen gerührt wird,
im Hohngelächter des Mephistopheles,
überhaupt in jedem Übergang von einem Extrem ins andere,
vom Vortrefflichsten zum Schlechtesten:
sonntags recht demütig, in tiefster Zerknirschung in den Staub,
die Brust zerschlagen und büßend sich vernichten,
abends sich vollfressen und saufen und in allen Lüsten herumwälzen,
- Unterjochung, gegen die das Selbstgefühl sich wiederherzustellen hatte.

Heuchelei ist damit verwandt, ist die größte Ironie.

Asts “inneres tiefstes Leben” ist eben die subjektive Willkür,
diese innere Göttlichkeit, die sich über alles erhaben weiß.

Als die Urheber dieser Ironie,
von der man versichert, sie sei das “innerste tiefste Leben,”
hat man fälschlich Sokrates und Platon angegeben,
obzwar sie Moment der Subjektivität haben;
unserer Zeit war es aufbehalten, diese Ironie geltend zu machen.

Das Göttliche soll die negative Haltung sein,
das Anschauen, Bewußtsein der Eitelkeit von allem;
meine Eitelkeit bleibt allein noch darin.

Das Bewußtsein der Nichtigkeit von allem zum Letzten machen,
mag wohl ein tiefes Leben sein;
aber es ist nur eine Tiefe der Leerheit,
wie sie wohl in der alten Komödie des Aristophanes erscheinen mag.

Von dieser Ironie unserer Zeit ist die Ironie des Sokrates weit entfernt;
Ironie hat hier, so wie bei Platon, eine beschränkte Bedeutung.

Sokrates’ bestimmte Ironie ist mehr Manier der Konversation, die gesellige Heiterkeit,
als daß jene reine Negation, jenes negative Verhalten darunter verstanden wäre,
- nicht Hohngelächter, noch die Heuchelei, es sei nur Spaß mit der Idee.

Aber seine tragische Ironie ist sein Gegensatz seines subjektiven Reflektierens
gegen die bestehende Sittlichkeit,
- nicht ein Selbstbewußtsein, daß er darübersteht,
sondern der unbefangene Zweck, zum wahren Guten, zur allgemeinen Idee zu führen.
b) Das Zweite ist nun das,
was Sokrates bestimmter seine ((461)) Hebammenkunst genannt hat,
die ihm von seiner Mutter überkommen sei, den Gedanken zur Welt zu helfen,
die in dem Bewußtsein eines jeden schon selbst enthalten sind,
eben aus dem konkreten unreflektierten Bewußtsein die Allgemeinheit des Konkreten
oder aus dem allgemein Gesetzten das Gegenteil, das schon in ihm liegt, aufzuzeigen.

Er verhält sich dabei fragend,
und die Art von Frage und Antwort hat man deshalb die Sokratische Methode genannt;
aber in dieser Methode ist mehr enthalten, als was mit Fragen und Antworten gegeben wird.

Sokrates fragt und läßt sich antworten;
die Frage hat einen Zweck, dagegen scheint die Antwort zufällig zu sein.

Im gedruckten Dialog sind die Antworten ganz in der Hand des Verfassers;
aber daß man in der Wirklichkeit solche Leute findet, die so antworten, ist etwas anderes.

Bei Sokrates können die Antwortenden plastische Jünglinge genannt werden,
sie antworten nur bestimmt auf die Frage;
und diese sind so gestellt, daß sie die Antwort sehr erleichtern,
alle eigene Willkür ist ausgeschlossen.

Diese Manier hat das Plastische selbst in sich gehabt,
und wir sehen sie in den Darstellungsweisen des Sokrates beim Platon und Xenophon.

Dieser Art zu antworten ist besonders entgegengesetzt,
daß man etwas anderes antwortet, als was gefragt ist,
daß man nicht in der Beziehung antwortet, in der der andere fragt;
bei Sokrates hingegen ist die Beziehung (Rücksicht),
die Seite, die der Fragende aufstellt, geehrt,
wird von dem, der antwortet, nur in derselben Rücksicht erwidert.

Das andere ist, daß man sich auch will sehen lassen,
einen anderen Gesichtspunkt herbeibringt;
dies ist allerdings der Geist einer lebhaften Unterhaltung.

Aber solcher Wetteifer ist aus dieser Sokratischen Manier zu antworten ausgeschlossen;
bei der Stange bleiben, ist hier die Hauptsache.

Der Geist der Rechthaberei, das Sichgeltendmachen,
das Abbrechen, wenn man merkt, man kommt in Verlegenheit,
das Abspringen durch Scherz ((462)) oder durch Verwerfen,
- alle diese Manieren sind da ausgeschlossen;
sie gehören nicht zur guten Sitte,
aber vollends nicht zu der Darstellung der Sokratischen Unterredung.

Bei den Dialogen darf man sich daher nicht wundern,
daß die Gefragten so geantwortet haben,
so präzise in der Hinsicht, in der gefragt wird,
dies ist das Plastische in dieser Manier;
in die besten neueren Dialoge mischt sich dagegen immer die Willkür der Zufälligkeit.

Dieser Unterschied betrifft also das Äußere, Formelle.

Die Hauptsache, worauf Sokrates mit seinen Fragen ging, ist nichts anderes,
als daß irgendein Allgemeines aus dem Besonderen unserer Vorstellung, Erfahrung,
was in unserem Bewußtsein auf unbefangene Weise ist, hergeleitet werden sollte.

Sokrates, um das Gute und Rechte in dieser allgemeinen Form ins Bewußtsein zu bringen,
geht vom konkreten Falle aus, von etwas, das der, mit dem er sich unterhielt, selbst billigte.

Von diesem Ersten ging er nicht durch Fortsetzung der damit verbundenen Begriffe
in reiner Notwendigkeit fort, die eine Deduktion, Beweis
oder überhaupt eine Konsequenz: +++ durch den Begriff wäre;
sondern dies Konkrete, wie es ohne Denken im natürlichen Bewußtsein ist,
die Allgemeinheit, in den Stoff versenkt, analysierte er,
so daß er das Allgemeine als Allgemeines darin heraushob;
er sonderte das Konkrete (Zufällige) ab,
wies auf den allgemeinen Gedanken hin, der darin enthalten ist,
und brachte so einen allgemeinen Satz, eine allgemeine Bestimmung zum Bewußtsein.

Dies Verfahren sehen wir auch besonders häufig in den Dialogen des Platon,
bei dem sich hierin eine besondere Geschicklichkeit zeigt.

Es ist dasselbe Verfahren,
wie in jedem Menschen sich sein Bewußtsein des Allgemeinen bildet;
die Bildung zum Selbstbewußtsein, die Entwicklung der Vernunft
ist das Bewußtsein des Allgemeinen.

Das Kind, der Ungebildete lebt in konkreten, einzelnen Vorstellungen;
aber dem Erwachsenen und sich Bildenden,
indem er dabei in sich als Denkendes zurückgeht,
wird die Reflexion auf das Allgemeine und ein Fixieren desselben
- und eine Freiheit, ((463)) wie vorher in konkreten Vorstellungen sich zu bewegen,
so jetzt in Abstraktionen und Gedanken.

Wir sehen solche Absonderung vom Besonderen,
wo eine Menge von Beispielen gegeben sind,
mit großer Weitschweifigkeit vornehmen.

Für uns jedoch, die wir gebildet sind, Abstraktes uns vorzustellen,
denen von Jugend auf Grundsätze gelehrt werden
(wir kennen das Allgemeine und können es fassen),
hat die Sokratische Weise der sogenannten Herablassung,
das Entwickeln des Allgemeinen aus so viel Besonderem,
diese Redseligkeit in Beispielen deswegen oft etwas Ermüdendes, Langweiliges (Tädiosität).

Das Allgemeine des konkreten Falls steht uns eher sogleich als Allgemeines da;
unsere Reflexion ist schon an das Allgemeine gewöhnt,
und wir bedürfen der mühsamen, weitläufigen Absonderung nicht erst,
und ebenso - wenn Sokrates die Abstraktion jetzt heraus vor das Bewußtsein gebracht hat -
es nicht, daß, um sie als Allgemeines zu fixieren,
uns eine solche Menge von Beispielen vorgeführt und das Erste wiederholt wird,
so daß durch die Wiederholung die subjektive Festigkeit der Abstraktion entsteht.

Die Hauptsache ist so die Entwicklung des Allgemeinen aus einer bekannten Vorstellung
durch das eigene Bewußtsein derer, mit denen Sokrates sich unterredet.

Die nächste Folge kann sein, daß das Bewußtsein sich wundert,
daß dies in dem Bekannten liegt, was es gar nicht darin gesucht hat.

Z.B. jeder kennt, hat die Vorstellung vom Werden.

Reflektieren wir darauf, so ist nicht, was wird, und doch ist es auch;
es ist Sein und Nichtsein darin.

Und Werden ist doch diese einfache Vorstellung, eine Einheit von Unterschieden,
die so ungeheuer unterschieden sind wie Sein und Nichts;
es ist die Identität von Sein und Nichts.

Es kann uns frappieren,
daß in dieser einfachen Vorstellung ein so ungeheurer Unterschied ist.
c) Indem nun Sokrates solch Allgemeines entwickelt hat,
war dann das Resultat zum Teil das ganz Formelle,
die sich Unterredenden zu der Überzeugung zu bringen,
daß, wenn ((464)) sie gemeint hatten,
mit dem Gegenstande noch so bekannt zu sein, sie nun zum Bewußtsein kommen:

“Das, was wir wußten, hat sich widerlegt.”

Sokrates fragte also zugleich in diesem Sinne fort,
daß der Redende dadurch zu Zugebungen veranlaßt werden sollte,
die das Gegenteil desjenigen enthielten, von dem sie ausgegangen waren.

Es entstehen also Widersprüche, indem sie ihre Vorstellungen zusammenbringen.

Das ist der Inhalt des größten Teils der Unterredungen des Sokrates.

Sokrates hat also solche Gesichtspunkte entwickelt,
die dem entgegengesetzt waren, was das Bewußtsein zunächst hatte;
die nächste Wirkung davon war mithin
die Verwirrung des Bewußtseins in sich, so daß es in VerIegenheit kam.

Diese anzurichten, das ist Haupttendenz seiner Unterredung.

Dadurch will er Einsicht, Beschämung, Bewußtsein erwecken,
daß das, was wir für wahr halten, noch nicht das Wahre ist;
es schwankt im Gegenteil.

Daraus sollte das Bedürfnis zu ernstlicherer Bemühung um die Erkenntnis hervorgehen.

Das ist die Hauptseite der Sokratischen Benehmungsweise.

Beispiele gibt unter anderen Platon in seinem Menon.

Sokrates fragt hier:
“Sage mir bei den Göttern, was die Tugend ist.”

Menon geht gleich auf Unterschiede über, definiert sie vom Manne, Weibe
“Des Mannes Tugend ist, zu Staatsgeschäften geschickt zu sein
und dabei Freunden zu helfen, Feinden zu schaden,
- des Weibes, ihr Hauswesen zu regieren;
eine andere sei die Tugend des Kindes (des Knaben), des Jünglings, des Greises” usf.

Sokrates läßt sich mit ihm ein:

Das sei es nicht, wonach gefragt,
sondern die allgemeine Tugend, die alle in sich begreife.

“Menon: Diese ist, anderen vorzustehen, zu gebieten.”

Sokrates bringt die Instanz herbei:

Die Tugend des Knaben und Sklaven bestehe nicht im Gebieten.

Menon: Er wisse nicht, was das sein sollte, das Allgemeine aller Tugenden.

Sokrates: Es sei wie mit der Figur,
die das Gemeinschaftliche des Runden, Viereckigen usf. (71-76).

Dann kommt Digression.

“Menon: Die Tugend ist, sich die Güter, die man verlangt, verschaffen können.” ((465))

Sokrates wirft ein:
a) es sei überflüssig, Güter hinzuzufügen;
was man wisse, daß es ein Übel sei, verlange man nicht;
b) dann, auf gerechte Weise, müsse es erworben werden.

Sokrates konfundiert den Menon;
und es zeigt sich, daß die Vorstellungen des Menon falsch sind.

Dieser sagt darauf:
"Ich habe früher, ehe ich selbst dich kennen lernen,
von dir gehört, daß du selbst in Zweifel seiest und auch andere darein bringest (verwirrst).

Und jetzt behext du auch mich, so daß ich voll von Verlegenheit bin.

Und du scheinst mir, wenn ich scherzen darf, jenem Meerfisch, dem Zitteraal, ganz ähnlich;
denn von diesem wird gesagt,
daß er den sich ihm Nahenden und Berührenden narkotisch mache.

So hast du mir es angetan;
denn ich bin narkotisch an Leib und Seele geworden,
und ich weiß dir nicht mehr zu antworten,
ob ich gleich zehntausendmal so viele Unterredungen mit sehr vielen
und, wie mir schien, recht gute gehabt habe über die Tugend.

Jetzt aber weiß ich ganz und gar nicht, was ich sagen soll.

Du berätst dich daher gut, daß du nicht in die Fremde reist;
sie würden dich leicht totschlagen als einen Zauberer."

Sokrates will wieder “suchen.”

Jetzt sagt Menon:
"Wie kannst du suchen, was du behauptest, du wissest es nicht?

Kannst du ein Verlangen nach etwas haben, das du nicht kennst?

Wenn du es zufällig findest, wie wirst du erkennen,
daß es das ist, was du gesucht, da du gestehst, es nicht zu wissen?" (77-80)

So in der Art endigen sich eine Menge Xenophontischer und Platonischer Dialoge
und lassen uns in Ansehung des Resultats (Inhalts) ganz unbefriedigt.

So der Lysis:
was Liebe und Freundschaft unter den Menschen verschaffe,
- so wird die Republik eingeleitet mit der Untersuchung, was das Gerechte sei.

Diese Verwirrung hat nun die Wirkung, zum Nachdenken zu führen;
und dies ist der Zweck des Sokrates.

Diese bloß negative Seite ist die Hauptsache.

Es ist Verwirrung, mit der die Philosophie überhaupt anfangen muss
und die sie für sich hervorbringt;
man muss an allem ((466)) zweifeln, man muss alle Voraussetzungen aufgeben,
um es als durch den Begriff Erzeugtes wiederzuerhalten.

Das Affirmative, was Sokrates im Bewußtsein entwickelte,
dies ist es nun, was näher anzugeben ist.

Dies Affirmative ist nichts als das Gute,
insofern es aus dem Bewußtsein durch Wissen hervorgebracht wird,
- das gewußte Gute, Schöne, was man die Idee nennt, das Ewige, Gute,
an und für sich Allgemeine, das durch den Gedanken bestimmt ist;
dieser freie Gedanke bringt nun hervor das Allgemeine, das Wahre
und, sofern es Zweck ist, das Gute.

In dieser Rücksicht ist Sokrates verschieden und entgegengesetzt sogar den Sophisten.

Sie sagen, der Mensch ist das Maß aller Dinge;
dies ist noch unbestimmt, es ist darin noch enthalten seine eigene Bestimmung;
er soll sich zum Zweck machen, darin ist das Besondere noch enthalten.

Bei Sokrates finden wir auch, daß der Mensch das Maß sei, aber als Denken;
dies ausgedrückt auf objektive Weise, ist es das Wahre, das Gute.

Wir dürfen es den Sophisten nicht zum Verbrechen machen,
daß sie nicht das Gute zum Prinzip gemacht haben,
es ist die Richtungslosigkeit der Zeit;
die Erfindung des Guten war durch Sokrates noch nicht gemacht,
jetzt liegt das Gute, Wahre, Rechte immer zugrunde.

Jenes ist eine Stufe der Bildung;
daß aber das Gute Zweck an sich ist,
ist die Erfindung des Sokrates in der Bildung, im Bewußtsein des Menschen;
es ist so kein Verbrechen, daß sie nicht andere früher gemacht haben,
- jede Erfindung hat ihre Zeit.