Audiovortrag

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(Der Anfang des Vortrages fehlt)

Anschließende Diskussion (59,9 MB, 63Min.)

Marx als Philosoph

Nachdem das auf dem Marxismus gegründete Gesellschafts- und Wirtschaftssystem bis auf wenige Überbleibsel – in China, Nordkorea, Birma (Myanmar) und Kuba – grandios gescheitert ist, stellt sich für viele die Frage, wo dieses System seine geistigen, seine ideologischen Wurzeln hat, und dies jenseits der offiziellen Parteidoktrin von KPdSU, SED und DKP. Diese Parteien verkündeten ja mit einem Wahrheitsanspruch, der keinen Widerspruch duldete, dass die gesellschaftliche Entwicklung mit geschichtlicher Notwendigkeit vom Urkommunismus über die Sklavenhaltergesellschaft, die Feudalgesellschaft und den Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus führe. Die Triebkraft sei der Klassenkampf, in dem jeweils die unterdrückte Klasse sich gegen die herrschende auflehne und sie ablöse, dabei aber wieder zur herrschenden werde, bis schließlich im Kommunismus die klassenlose Gesellschaft erreicht sein werde. Der Kapitalismus gehe dadurch unaufhaltsam („gesetzmäßig") seinem Untergang entgegen, dass die Basis der Ausbeutung, auf der er beruhe, nämlich die Arbeiterklasse, durch die auf Profitgier beruhende Rationalisierung immer kleiner werde, so dass er immer weniger Profit machen könne (Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate). Da nun die Geschichte, wie es scheint, gezeigt hat, dass diese wie auch andere behauptete Gesetzmäßigkeiten nicht zutrafen, stellt sich die Frage nach der Berechtigung und Begründung der Marx’schen Theorie.

Diese Frage führt uns zurück zu Karl Marx als Philosophen und zeigt uns eine außerordentlich eindrucksvolle Wirkungskraft, aber auch überraschende Ursprünge seiner Philosophie. Zunächst muss die Tatsache hervorgehoben werden, dass er tatsächlich Philosoph war und der Philosophie eine überaus wichtige Rolle zusprach. Er wurde 1818 in Trier als Sohn des Anwalts und Justizrats Heinrich (Heschel) Marx geboren, der - wie auch Marx’ Mutter - aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie stammte. Es ist auch zu untersuchen, ob und wie die jüdische Denktradition auf seine Theorie eingewirkt hat, insbesondere der monotheistische Gottesbegriff, der sich vom christlichen dadurch unterscheidet, dass er nicht trinitarisch ist. Das kann hier nicht näher ausgeführt werden. Marx schrieb seine Doktorarbeit 1841 über den Unterschied in der Naturphilosophie der beiden griechischen Philosophen Demokrit und Epikur.

Die Welt neu erschaffen

Seine Auffassung von der Bedeutung der Philosophie kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Die Philosophie, solange noch ein Blutstropfen in ihrem weltbezwingenden, absolut freien Herzen pulsiert.." Die Philosophie ist für ihn also in der Lage, die Welt zu bezwingen. Diese Auffassung hatte er aber nicht erfunden, sondern es gab sie schon zu Beginn des Jahrhunderts bei dem Dichter und Philosophen Novalis. Dieser vertrat einen sogenannten magischen Idealismus, das sollte bedeuten: wie ein Magier zaubern kann, so können Ideen die Welt verändern:

„Magie ist der Traum einer jeden Philosophie, die an dem Ungenügen leidet, die Welt, die Fülle alles Seienden, bloß zu erklären. Ein Machtspruch, ein Zauberwort, die Auffindung eines allvermögenden Prinzips sollen die Verhältnisse aller Dinge, ja die Dinge selber nach Maßgabe der Willkür des Philosophierenden lenken, zum Tanzen bringen, erschaffen, verändern, womöglich vollständig aufheben. Mit der Fähigkeit, die Fülle alles Seienden aufzuheben, eine andere Welt an die Stelle der bloß zu erklärenden zu setzen, wäre der Philosoph »Verbündeter mit Gott«, ja »Gott gleich« geworden."

Dieser größenwahnsinnige Gedanke war schon in Fichtes „praktischem Idealismus" angelegt, in dem das „Ich" die Welt unbedingt aus sich heraus setzt, also erschafft. Allerdings war bei keinem dieser Philosophen Praxis als die tägliche Arbeit verstanden, und auch nicht Wirtschaft und Technik, mit denen ja die Welt tatsächlich neu erschaffen und auch grundlegend verändert wird. Davon wollten sie nichts wissen.

In diesem Sinne verkündete Marx: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern. Dieser Spruch steht noch in goldfarbenen Buchstaben am Treppenaufgang in der Eingangshalle der Humboldt-Universität. Ein daneben angebrachtes Schild weist darauf hin, dass er auf Betreiben der SED angebracht worden sei und die Halle unter Denkmalschutz stehe – praktisch eine Entschuldigung, dass man ihn nicht entfernen kann. Man glaubt, Novalis nahezu wörtlich bei Marx wiederzuerkennen, wenn er schreibt:

„Man muss jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen."

· die Verhältnisse umwerfen

· die Verhältnisse verbessern


Begriffsklärung: Kommunismus. Sozialismus, Sozialdemokratie..


1. Kommunismus

Unter Kommunismus versteht man die Bewegung, die als Endziel eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Die entsprechenden Parteien nannten sich fast alle kommunistisch: KPdSU, KPD, DKP usw. In der DDR gab es einen Zusammenschluss zwischen KPD und SPD („Zwangsvereinigung"), deren Ergebnis die SED war, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Sie war aber keine sozialistische, sondern eine strikt kommunistische Partei, keine Mischung aus Kommunisten und Sozialdemokraten. Wer sozialdemokratische Politik betreiben wollte, kam ins Zuchthaus.

Das galt auch für Reformkommunisten wie Robert Havemann und viele andere. Aparterweise kam erst im Jahre 2011 eine Geheimrede von Walter Ulbricht zu Tage, in der er Wirtschaftsreformen wie mehr Selbständigkeit für die Betriebe gefordert hatte. Er galt bis heute als unverbesserlicher Hardliner und Betonkopf. Im Gegensatz zu dieser Auffassung wurde er von Honecker und 13 anderen Politbüromitgliedern beim sowjetischen KPdSU-Chef Breschnew angeschwärzt und 1971 aus dem Amt gedrängt, das dann von Honecker übernommen wurde.

2. Sozialismus

  1. Unter Sozialismus wurde zum einen die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstanden, die in der DDR und den anderen „sozialistischen" Staaten bestand. Die Theorie besagte, dass nach dem Kapitalismus zunächst der Sozialismus aufgebaut werden müsse, der noch unter den „Muttermalen der alten Gesellschaft" zu leiden habe. Seine Mängel wurden darauf zurückgeführt, dass eben noch der Kapitalismus seine Spuren hinterlassen habe und ihm noch feindlich gegenüberstehe. Der Kommunismus, das Arbeiterparadies, könne erst in einer ferneren Zukunft entstehen.
  2. Der „real existierende Sozialismus" war ein Kampfbegriff der SED und der DDR gegen sozialistische Strömungen im Westen. Wenn es in der DDR auch sonstwelche Mängel gäbe, so existiere doch dort der Sozialismus real, während die „Sozialisten" im Westen sich nur irgendwelchen nicht realisierbaren Traumgebilden hingäben.
  3. Im Westen, speziell in der Bundesrepublik Deutschland, bestand eine Anzahl von sozialistischen Strömungen, die sich von der DDR abgrenzten und diese kritisierten. Sie nannten sich undogmatisch, nicht-revisionistisch oder antirevisionistisch. Das sollte bedeuten: die orthodoxe Linke (so bezeichne ich hier einmal die SED, DKP usw.) habe Marx revidiert und verfälscht, während die Antirevisionisten den wahren Marxismus verträten. Diese eher gemäßigten Sozialisten wurden rechts von den Orthodoxen eingeordnet, während es „links" von diesen noch die von ihren Gegnern Ultralinke oder Chaoten genannten Gruppen wie Maoisten und dergl. gab: Marxisten-Leninisten, Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (die verboten war und ist), Kommunistischer Bund Westdeutschlands, Rote Hilfe uvam. Noch weiter links erstreckte sich das Spektrum bis zu den Terroristen der RAF (Rote Armee Fraktion).

3. Sozialdemokratie

In der SPD trat um die Zeit des 1. Weltkrieges eine Spaltung zwischen Reformern und Revolutionären ein. In Russland wurde 1917 mit der Oktoberrevolution das Ziel der Revolutionäre erreicht. Die Reformisten hingegen traten für eine schrittweise Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen ein, wurden aber von den Revolutionären deshalb des Verrats beschuldigt, weil sie mit solchen Verbesserungen die Arbeiter vom Kampf für die Revolution abhielten; sie seien nur „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" und verlängerten durch ihre Reformen nur dessen Existenz. Hier trat der alte Zwiespalt zwischen der Schaffung einer ganz neuen Welt (verbunden mit der Beseitigung der alten) und partiellen verbessernden Maßnahmen wieder in Erscheinung. 1959 löste sich die SPD im Godesberger Programm vom Marxismus und erklärte, dass der Sozialismus kein Ziel mehr sei, sondern nur noch ein Weg. 1989 brach das von den Kommunisten errichtete sozialistische Weltsystem bis auf wenige Reste (China, Nordkorea, Kuba, Birma/Myanmar) zusammen. Damit war – meines Erachtens – der Beweis erbracht, dass die Reformisten Recht behalten hatten.

Kant und die Zerrissenheit

Seit Descartes, seit dem Beginn der Neuzeit, war das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt (übrigens bis heute) ungeklärt. Mit seinem Satz „Ich denke, also bin ich" (Cogito, ergo sum) brachte Descartes zum Ausdruck, dass wir uns nur unseres eigenen Denkens gewiss sein können, aber nicht der Welt um uns herum. Die Wahrnehmung der Außenwelt könne auch eine Sinnestäuschung sein. Diese Unklarheit war ein mächtiger Stachel für die Naturwissenschaften, weil die Menschen sich über die Umwelt Klarheit verschaffen wollten. Es gab nun zwei verschiedene Grundauffassungen, wie Menschen die Welt erkennen. Der Rationalismus sagte: mit dem Verstand (oder der Vernunft), während für den Empirismus die Erkenntnis auf Erfahrung beruhte. Eine Steigerung davon war der Materialismus, für den es einen eigenständigen Verstand gar nicht gibt; es gibt nur materielle Dinge, und das Denken ist nur eine Gehirnfunktion. Diesen Zwiespalt wollte Kant überwinden; das ist ihm aber nicht gelungen; denn auch bei ihm blieb es bei den „zwei Stämmen der Erkenntnis": Anschauung und Vernunft. Die Anschauung erfolgt mit den fünf Sinnen: Sehen, Hören, Fühlen usw., die Vernunft mit dem Denken.

Der Zwiespalt setzte sich nun fort in Kants Auffassung vom Denken. Alles Denken geschieht in Urteilen, so lehrte er. Wenn der Richter sagt: „Der Angeklagte ist ein Dieb“, so urteilt er über ihn. Wenn wir sagen: Das Wetter ist schön, dann geben wir ebenfalls ein Urteil ab; sogar der bei den Philosophen beliebte Satz „Die Rose ist rot” ist eine Beurteilung der Rose. Entsprechend dem damaligen Verständnis des Wortes wurde „Ur-teil" als ursprüngliche Teilung verstanden: die Rose teilt sich in sich selbst und eine ihrer Eigenschaften, das Rot. Beides wird auseinandergelegt. Auseinanderlegen heißt auf Griechisch dialego; daher kommt die Dialektik. Wem das jetzt alles zu sehr in die philosophischen Feinheiten geht, der sollte aber bedenken, welche gewaltige Sprengkraft die Philosophie später entwickelt hat – und wieviele Jahrgänge von DDR-Studenten mit dem DIAMAT, dem Dialektischen Materialismus, traktiert worden sind.

Entfremdung

Dieses Auseinanderlegen, dieses Denken in Widersprüchen war die Grundlage für Marx’ Lehre vom Klassenkampf. Der antagonistische (nicht auflösbare) Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat könne nur durch die Revolution, also die Beseitigung der Bourgeoisie, aufgehoben werden. Das alles beruhte für Marx auf der Entfremdung; weil der Arbeiter nicht wie der Bauer seine eigenen Produktionsmittel besitzt, ist er von den Produktionsmitteln entfremdet, auch von dem Produkt seiner Arbeit, denn es gehört dem Kapitalisten; in der Folge ist er auch von den anderen Menschen entfremdet und sogar von sich selbst. Das war die Wurzel des ganzen Übels. Die Entfremdung hatte Marx von Hegel, der von Schiller, und letzten Endes kam sie von Rousseau. Schiller führte die Entfremdung oder Entzweiung des Menschen mit sich selbst auf die Arbeitsteilung zurück, durch die jeder Mensch angeblich nur eine Detailfunktion ausübt und nicht mehr im Gesamtzusammenhang steht. Bei Rousseau („Zurück zur Natur!“) wirkte die romantische Vorstellung, dass früher alles besser war, dass der Mensch, der „edle Wilde,” ursprünglich gut war und nur durch die Zivilisation verdorben wird. Arbeitsteilung und Privateigentum haben daran maßgeblichen Anteil. Wir sehen also, dass Marx’ Streben nach einer anderen Welt wesentlich romantisch, auf die Wiederherstellung einer verloren geglaubten besseren Welt gerichtet war. Insofern ist es kein Zufall, dass er so entscheidend von dem Frühromantiker Novalis beeinflusst worden ist. Wir finden auch unter den heutigen Menschen verbreitet zwei entgegengesetzte, meist vollkommen unbewusste Geistesströmungen: Während die einen davon ausgehen, dass die Menschheit sich von einem rohen, barbarischen, ursprünglich dem Tierreich nahestehenden Zustand durch zivilisatorische und kulturelle Prozesse höherentwickelt, sieht die andere Auffassung einen entgegengesetzten Ablauf am Werk. Danach beginnt die Entwicklung bei einem paradiesischen Urzustand, von dem sie durch einen kontinuierlichen Niedergang dem Verfall und dem Untergang zugeht. Dies trifft teilweise auf die christliche Religion zu, die ja vom Paradies ausgeht und dem Weltuntergang, dem Jüngsten Gericht zustrebt(e), aber auch auf die Lehre von den vier Weltzeitaltern, die beim goldenen Zeitalter anfängt und über das silberne und eherne zum eisernen führt, in dem Betrug, Hinterlist und Gewalt herrschen. Sie wurde von Ovid in Verse gefasst: Aurea prima sata est aetas, que vindice nullo, sponte sua sine lege fidem rectumque colebat. Zuerst entstand das goldene Zeitalter, das ohne äußeren Anstoß aus eigenem Antrieb, ohne Gesetz die Treue und das Richtige pflegte.

Es wäre wichtig, sich diese unbewussten Grundlagen des eigenen Denkens bewusst zu machen, um sie entscheidbar zu machen. Denn bei klarem Nachdenken zeigt sich deutlich, dass die romantische Vorstellung, früher sei alles besser gewesen, mit der Realität der Steinzeitmenschen, die jeden Tag ums nackte Dasein kämpfen mussten, nichts zu tun. hat. Es ist natürlich auch nicht alles besser geworden, vor allem nicht im letzten Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Extreme" (Hobsbawm), dem wir uns noch zuwenden wollen.

Hegel und die Versöhnung

Nicht für die normalen Menschen, aber für manche Philosophen war es ein großes, ein ungelöstes Problem, dass man nicht wusste, wie der Mensch mit seiner Umwelt, wie Subjekt und Objekt zusammenhängen. Diesen Zwiespalt versuchte zur Zeit Kants die Versöhnungsphilosophie zu lösen, zu deren Anhängern auch Hölderlin zählte. Hölderlin, Schelling und Hegel hatten als Studenten im Tübinger Stift einen Bund geschlossen, dem sie den Wahlspruch „Das Eine und das Ganze" gaben. Als Hegel sich in Frankfurt aufhielt, reiste Hölderlin eigens mit seinem Freund Sinclair zu ihm, um ihm für seine philosophische Arbeit die Aufgabe dieser Versöhnung zu stellen. Hölderlin ist später dem Wahnsinn verfallen, und manche meinen, genau aus diesem Grunde, dass er den Zwiespalt mit der Welt nicht ertragen hat. Hegel aber hat die Aufgabe gelöst.

Hatte Kant noch das Denken auf die Urteile beschränkt, die nur zwei Seiten haben: Die Rose ist rot, so führte Hegel in seiner Logik das Denken weiter, indem er ausführte, dass es ganz wesentlich im schließen besteht. Beim schließen bringen wir drei Elemente in Zusammenhang: Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; also ist Sokrates sterblich. Zwischen Sokrates und sterblich tritt ‚Mensch’ und begründet, vermittelt, warum Sokrates sterblich ist. Der Dreischritt von These – Antithese – Synthese ist weithin bekannt. Das ist der große Unterschied zwischen Kant und Hegel: Die zwei getrennten Seiten des Urteils werden von Hegel im Schluss durch ein drittes Element vermittelt und dadurch versöhnt. Dadurch können auch wir uns mit der Welt, mit der Wirklichkeit versöhnen, allerdings nicht so, wie sie ist, sondern so, wie wir sie in einem immerwährenden Prozess zum Guten gestalten.

Marx und der Klassenkampf

Nicht so Karl Marx. Er wandte sich mit einer wahren Schimpfkanonade gegen die „Absurdität der Vermittelung" – die er aber überhaupt nicht verstanden hat. Wir hatten schon gesehen, dass er in der Traditionslinie der Kant’schen Zerrissenheit den Klassenkampf als Gesetz der Geschichte festgelegt hat. Im Klassenkampf muss das Proletariat die Bourgeoisie vernichten, weil sie in einem antagonistischen Widerspruch stehen. Das verkündete Marx als Philosoph; es war die Philosophie, die sich im Proletariat ihre materiellen Waffen gesucht - und gefunden – hatte:

„Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen."

Die Arbeiterklasse ist also in den Händen des Philosophen Marx zu einem Instrument seiner Philosophie geworden. Lenin hat das folgerichtig fortgeführt, wenn er Leute, die ihm darin folgten, zu „nützlichen Idioten" erklärte und wenn er forderte, dass seine Gefolgsleute sich in den russischen Fabriken darum kümmern sollten, dass die Arbeiter ihr Teewasser bekämen, um sie für die Sache der Revolution zu gewinnen. Es ging nicht um Interessenvertretung für die Arbeiter, sondern darum, sie für das politische Ziel zu gewinnen. Noch heute staunt man manchmal, mit welchen gerade populären, populistischen Forderungen die Anhänger dieser Lehre auftreten, die mit ihrem Programm eigentlich nichts zu tun haben. In Frankreich ist die KPF für Atomkraft, in Deutschland ist die Linkspartei dagegen, in der DDR war sie (als SED) für sozialistische, aber gegen kapitalistische Atomkraftwerke.

Jedenfalls war diese Strategie sehr erfolgreich. Die Philosophie wurde zur materiellen Gewalt:

„Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift."

Oktoberrevolution und die Folgen

In der Oktoberrevolution wurde die – in Russland noch nicht sehr entwickelte – Bourgeoisie gestürzt, allerdings nicht durch die Arbeiterdemokratie ersetzt, für die die Kronstädter Matrosen kämpften, aber von Lenin gnadenlos zusammenkartätscht wurden. Gegen die nun errichtete Diktatur des Proletariats kämpften die Weißen in Rußland; 22 ausländische Staaten schickten Truppen zur Konterrevolution, blieben aber erfolglos. Schon Lenin hatte gesagt, wenn man die Ausbeuterklasse stürze, würde sie jedes Verbrechen begehen, um wieder an die Macht zu kommen. Während der Sozialismus aufgebaut wurde, mit Industrialisierung, Elektrifizierung, Alphabetisierung, aber auch einem gewaltigen System der Zwangsarbeit (GULAG), planten die Westmächte den Gegenschlag. Sie waren ja auch in ihren Ländern der Gefahr der Revolution ausgesetzt: Räterepublik in Bayern, in Ungarn, Volksfrontregierung in Sachsen, in Thüringen, in Hamburg, Liebknecht und Luxemburg riefen in Berlin die sozialistische Republik aus, in Spanien und Frankreich gab es Volksfrontregierungen.

Für diesen Gegenschlag bot sich ihnen Hitler an. Die maßgeblichen Kreise, die Einfluss auf den Präsidenten Hindenburg hatten, die ostelbischen Rittergutsbesitzer und die Reichswehrführung, am Schluss auch Teile des Großkapitals, drängten ihn 1933 zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, weil sie Angst vor einer Wiederholung der Novemberrevolution von 1918 hatten. Die KPD unter Ruth Fischer hatte einen linksradikalen Weg beschritten, auf dem die Sozialdemokratie (nicht die Nazis) zum Hauptfeind erklärt wurde. Auch diese Spaltung hat zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen. Der englische König war ein Freund der Nazis, weite Teile der englischen Upper Class, der amerikanische Botschafter in London, Kennedy, gehörte dazu, und die niederländische Königin heiratete unter den Klängen des Horst Wessel-Liedes, der Hymne der Nazis, ein deutsches Mitglied der NSDAP. Sie alle gaben Hitler „Freie Hand im Osten“, gaben ihm 1938 im Münchner Abkommen („Appeasement”) die Tschechoslowakei preis, damit er gegen die Sowjetunion marschiere – wie er es schließlich auch getan hat. Der Faschismus war ein System der Konterrevolution, schrieb 1989 ein Autor der Linken.

1986 allerdings hatte ein Autor der Rechten, Ernst Nolte, einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er in unerträglicher Weise fast jedes NS-Verbrechen mit Verbrechen der Kommunisten begründete, rechtfertigte, relativierte oder bagatellisierte. Daraus entstand der Historikerstreit, der zwar nie entschieden wurde, aber dazu führte, dass sich kaum noch jemand an das Thema herantraut, weil es durch Noltes Entstellungen geradezu unappetitlich geworden ist. Unter diesem Schutt verborgen schlummert noch immer die schmerzliche Erkenntnis, dass die Konterrevolution eine Reaktion auf die Revolution war.

Es gab später Ereignisse, die nicht ganz so viele Millionen Opfer forderten wie die Nazidiktatur und der zweite Weltkrieg, aber das Muster deutlicher erkennen lassen. In Chile kam 1970 in freien, demokratischen Wahlen eine Koalitionsregierung aus Sozialisten, Kommunisten und Liberalen an die Macht, die 1973 von der CIA und anderen Kräften gestürzt wurde, weil sie die Kupferminen und andere Produktionsmittel verstaatlicht hatte. Tausende von Parteigängern der Allende-Regierung sowie der Präsident selbst wurden umgebracht. In Brasilien gab es 1964 einen Militärputsch gegen den frei gewählten Präsidenten Joao Goulart, weil dieser den Sozialismus einführen wollte. Die Militärdiktatoren Castelo Branco und Costa e Silva hielten sich viel darauf zugute, dass sie nicht solche Schlächter seien wie Pinochet in Chile, sondern „chirurgisch" vorgingen: sie brachten nur „so viele wie nötig" um. Der letzte war Lamarca, der mit einem Lastwagen voller Waffen gefasst wurde. Eine seiner Guerilleras ist heute Präsidentin. Man könnte noch viele solcher Beispiele anführen, Argentinien, Bolivien, halb Afrika..

Es geht darum, das zugrundeliegende Muster zu erkennen. Immer wurde nach der Theorie von Marx eine Revolution durchgeführt, und immer wurde sie mit großen Opfern an Blut, Leiden und Zerstörung bezahlt. Zig Millionen haben gelitten und sind gestorben für ein Ziel, das sich schließlich als verfehlt erwiesen hat. Deshalb kann man mit Recht die bange Frage stellen, wohin es führen kann, wenn heute wieder „Wege zum Kommunismus" gesucht werden und auf einer „Kommunistischen Plattform" für die Geltung der marxistischen Theorie geworben wird.

Die Geschichte hat ihr Urteil über die Theorie und Philosophie von Karl Marx gefällt, und es ist in Blut geschrieben: nicht die Zerrissenheit, die Entfremdung, der Klassenkampf und die Revolution waren der richtige Weg, sondern die Versöhnung, die Vermittlung zwischen den Gegensätzen und das zähe, friedliche, pragmatische Ringen um Verbesserungen, um Fortschritt für ein besseres Leben, für den Schutz der Umwelt und der Natur, aber auch für eine Höherentwicklung der Menschheit. Luis Inácio da Silva, genannt Lula, hatte noch als Präsident der Metallarbeitergewerkschaft CUT mit linksradikalen Sprüchen das Bürgertum verschreckt, aber als Präsident hat er dann mit einem Hilfsprogramm für die Armen eine brasilianische Mittelklasse hervorgebracht und sein Land zu einem führenden unter den Schwellenländern gemacht. Umgekehrt ist ein Beispiel für die Wirkung der Spaltungspolitik, wenn in Hessen bis heute wegen der Existenz der Linkspartei eine CDU-Regierung an der Macht ist. So hat in Italien die Stärke der Kommunisten jahrzehntelang die Christdemokraten an der Macht gehalten. Selbst in der vereinfachten Form der Dialektik, wie sie der Stalinismus vertreten hat, war es eine beliebte Figur, dass eines sein eigenes Gegenteil bewirkt und hervorbringt.