Gefühl und Vernunft müssten sich nicht widersprechen. Siehe in Hegels Enzyklopädie, Band 3, Paragraph 471-474 (stw 610, S.290-297).

Ich zitiere als Kommentar dazu ein paar Sätze aus dem Buch “Hegels praktische Philosophie” von Adriaan Peperzak (Verlag Fromann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, ISBN 3-7728-1351-8, Leinen, 372 S., leider 280 DM. Behandelt sehr gut und Wort für Wort die Paragraphen 469-552 der Enzyklopädie), S.99ff:

Die positiven Seiten des Gefühls bestehen darin, dass 1) der fühlende Mensch sich selbst als so und so bestimmt erfährt, und dass er 2) das gefühlte Objekt nicht mit dem Verstand zerstückelt, sondern als ein Ganzes empfindet. Mit Bezug auf das praktische Gefühl heißt dies, dass ein Mensch, der sich durch ein Gefühl leiten lässt, sich einem bestimmten Totalzweck von Innen heraus (“vom Herzen”) und ganz widmet. Wer den Gefühlen und Neigungen seines Herzens folgt, der ist ein ganzer Mensch, der sich stark mit seinen Zielen identifiziert. “Herz” ist in diesem Kontext der Name für das Subjekt als Vereinigung aller seiner erschiedenen praktischen Gefühle.

Die Kennzeichnung des Gefühls als immanent und total zeigt seine Verwandtschaft mit der Vernunft. Beide sind dem Verstand [der in der den 1.Schritt des dialektischen Dreischritts ausmacht und in der Vernunft aufgehoben ist, siehe Verstand vs> Vernunft KF] entgegengesetzt, insofern dieser distant, analytisch und atomisierend ist. Vernünftige Zwecke und Bestrebungen können deshalb nicht in Verstandesbegriffene, aber sehr wohl in Gefühlen ausgedrückt und übersetzt werden. [KF: wer die Ebene der Vernunft nicht kennt, tendiert dazu diese einander in polemischer Absicht gegenüber zu stellen, etwa radikale Aufklärung gegen Gefühlsduselei oder, wie in deinem Falle, die echte-menschlichen Gefühlsmenschen gegen die eiskalte Verstandesmenschen, Thema für manche Roboter- / SF-Grusel-stories]. Darum ist es möglich, ein Gefühl für Gerechtigkeit oder für Gott zu haben. Moralische, sittliche und religiöse Gefühle sind nichts anderes als die psychisch-konkrete Erfahrung eines Menschen, der durch die praktische Vernunft beherrscht wird.

Die Stärke des Gefühls kann aber auch seine Schwäche sein. Denn es gibt ebenso gut unvernünftige wie vernünftige Gefühle und Neigungen.

Wenn der Inhalt, zu dem wir uns sympathisch verhalten, nicht gut, z.B. Unrecht oder ein Idol [hier wohl i.S. von “etwas zu unrecht> gewürdigtes,” KF] ist, müssen wir unserer spontanen Selbstbestimmung widerstehen, weil die Vernunft uns entgegengesetzte Inhalte empfiehlt. Die letzteren werden vom richtigen Denken [KF: im Gegensatz auch etwa> gegen ein “Über-Ich”] als wahr, allgemein, im Kantischen Sinne als objektiv und praktisch notwendig eingesehen. Wer richtig fühlt, kann das auch einsehen, weil sein Gefühl nichts anderes ist als der Ausdruck seiner natürlichen subjektiven Einzelheit. Als solches ist das Gefühl aber eine bloße Form, die sich an alle möglichen Objekte heften kann. An sich ist es völlig zufällig, ob ein gefühlter Inhalt vernünftig ist oder nicht.

Das Fühlen kann also nicht selbst das Kriterium für Recht, Moral, Religion usw. abgeben; es braucht die Führung der Vernunft und des vernünftigen Denkens.

Alles, was in einem theoretischen oder praktischen Gefühl wahr oder gut ist, kommt vom Geist. außer dem vernünftigen Inhalt gibt es im moralischen, rechtlichen oder religiösen Gefühl nicht Gutes, das eigentümlich für das Fühlen wäre.[..]

Die Gegenüberstellung von Vernunft und Herz (oder Gefühl) und die damit zusammenhängende Frage, worin das Fundament der Moral liege, ist durch das Verstandesdenken verursacht worden. Es kann nicht verstehen, dass es hier um zwei Niveaus Desselben (nämlich der geistig-natürlichen Selbstbestimmung eines endlichen Subjektes) geht und konstruiert deshalb einen Gegensatz zwischen den drei traditionellen Tätigkeiten des Geistes: Erkennen, Wollen und Fühlen.[..]

Noch ein paar kleine Nachträge von mir (KF):

Dass sich Gefühl und Gedanken widersprechen können, zeigt schon, dass sie eine gemeinsame Basis haben, vom gleichen Inhalt handeln.

Der zitierte Abschnitt von Hegel / Peperzak geht darauf ein, dass diese sich daher nicht gegenseitig ausschließen, das Ziel ist zu einer Übereinstimmung zwischen beiden zu kommen.

Erst wenn ich auch in meinen Gedanken um den Inhalt und daher um die (relative) Berechtigung meines Gefühls weiß, bin ich am Ziel. Ohne das, hat mein Gefühl als Unbegründetes einen Mangel.

Aber es kann durchaus sein, dass in einem Gefühl ein Inhalt gewusst wird, der in den bisherigen bewussten Gedanken noch nicht begriffen/begrifflich vorliegt. Es ist daher für mich nicht ausgemacht, dass im Falle eines Konfliktes zwischen “Herz” und “Verstand” das Herz falsch liegt. Im Gegenteil weisen Widersprüche zwischen den beiden Instanzen meist auf interessante verborgene / zu hebende Einsichten hin (aber alles immer mit dem Ziel der gewaltlosen Übereinstimmung zwischen beiden).

Wenn Menschen ein mangelndes Gefühl, eine Überbetonung des Verstandes bemängeln, wollen sie wohl meist in Wirklichkeit eher einen Widerspruch zwischen ihren Gefühlen und deinem Verstand feststellen, letztlich läuft es auf dieselbe Situation heraus, die wir schon mal in unserer Meinungs-Diskussion hatten, der Mensch kann letztlich seine Gedanken und deine Gedanken nicht in Übereinstimmung bringen.

Einen anderen sachlichen Grund hat der Vorwurf möglicherweise darin, dass gerade wenn man viel liest, es seine Zeit dauert, bis sich dieses zu einem nahtlosen, übereinstimmenden Ganzen (das dazu auch noch zu uns, unserer Geschichte, Lebenssituation, usw. passt) zusammenfügt.

Da das Gefühl, wie im Peperzak-Kommentar beschrieben, ein Ganzes ausmacht, mahnen die Menschen mit dem festgestellten Widerspruch das ihnen fehlende “harmonische Ganze” an. (Wobei klar ist, dass je weniger man liest, je weniger man nachdenkt, seine Situation reflektiert, destso weniger Probleme hat man damit. Das kann aber keine Lösung sein. Die Auflösung besteht natürlich darin, wie angedeutet, auf Basis des breiteren Inhalts / der Gedanken zu einem neuen harmonischen Ganzen zu kommen).

Vergleiche auch:

Unwissenheit und SkeptizismusSei doch vernümftig